
Neue geopolitische Unsicherheit: Die Aufgabe der baltischen Länder
RGOW 03–04/2025
Den Warnungen der baltischen Länder vor Russlands Revisionismus wurde in der EU erst mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Glauben geschenkt. Mit der Wiederwahl Donald Trumps zeichnen sich neue geopolitische Verschiebungen ab, denen die baltischen Länder mit einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsstrategie zu begegnen versuchen.
Trotz ihrer Nähe zu Russland und langjähriger Warnungen über dessen revisionistische Ambitionen spielten die baltischen Staaten zwei Jahrzehnte lang im strategischen Denken der EU nur eine untergeordnete Rolle. Ihre Forderungen nach einer härteren Haltung gegenüber Moskau wurden von westlichen Hauptstädten oft als alarmistisch und nicht im Einklang mit der bevorzugten Doktrin des „pragmatischen Engagements“ abgetan. Russland verstärkte diese Wahrnehmung, indem es die baltischen Staaten in einer Mischung aus postkolonialer Geringschätzung und Bevormundung als radikal und unreif darstellte, um sie diplomatisch zu marginalisieren und ihnen die Schuld für die angespannten Beziehungen abzuladen. Dieses Zusammentreffen von westlicher Skepsis und russischen Narrativen schränkte den Einfluss des Baltikums auf die Russlandpolitik der EU ein und vertiefte die Kluft zwischen „altem“ und „neuem“ Europa.
Das änderte sich mit Russlands Vollinvasion in die Ukraine – ein geopolitischer Schock, der die baltischen Staaten ins Zentrum der EU-Außenpolitik katapultierte.[1] Nachdem alle Versuche, „Russland zur Vernunft zu bringen“, gescheitert waren, boten die baltischen Staaten eine hart verdiente Doktrin mit drei Grundpostulaten an, die in der NATO und EU an Zugkraft gewann: dass Moskaus Ambitionen wachsen, wenn sie nicht in Schach gehalten werden; dass Zugeständnisse als Schwäche angesehen werden; und dass Macht die einzige Sprache ist, die der Kreml respektiert. Dieser Ansatz stand in starkem Gegensatz zur früheren Beschwichtigungspolitik und erlaubte es den baltischen Ländern – zusammen mit Polen und anderen – die Führung bei der Ausgestaltung der EU-Reaktion auf die Aggression Russlands zu übernehmen. Das war dank eines tiefen Verständnisses von Russland, strategischer Konsequenz und politischer Glaubwürdigkeit möglich. Die baltischen Staaten betrachteten das russische Verhalten seit Mitte der 2000er Jahre als Teil einer langfristigen imperialen Strategie. Ihre Warnungen – von Georgien über die Krim bis zu Energie- und Cyberbedrohungen – spiegelten gelebte Erfahrung und keine Spekulation wider. Strategisch setzten sie sich lang vor 2022 für Abschreckung und Unterstützung gefährdeter Nachbarn ein, befürworteten Sanktionen, Energieunabhängigkeit und eine stärkere NATO-Präsenz.
Die Glaubwürdigkeit der baltischen Staaten ist gewachsen. Sie haben moralische Klarheit mit echtem Engagement verbunden: Sie haben Zehntausende ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, stark in die Verteidigung investiert und führen die militärische Unterstützung für die Ukraine an, wobei Estland über 1 Prozent seines BIP beisteuert. Mit ihrem konsequenten Handeln haben sie in Brüssel und darüber hinaus Vertrauen gewonnen. Die Nominierung der Estin Kaja Kallas als EU-Außenbeauftragte ist eine symbolische und institutionelle Anerkennung dieses Wandels.[2]
Geopolitische Unsicherheit unter Trump
Im Kontext von Russlands andauerndem Krieg gegen die Ukraine birgt die Wiederwahl von Donald Trump zwei zentrale Konsequenzen: einen Bruch in der westlichen Einheit, begleitet von Washingtons zunehmend beschwichtigender Haltung gegenüber Moskau, und die dringende Notwendigkeit, dass Europa auf diese neue geopolitische Realität reagiert. Trumps erste Präsidentschaft 2016–2020 war zwar disruptiv und erratisch, wurde aber zumindest teilweise von institutionellen Kontrollmechanismen und einer traditionellen außenpolitischen Bürokratie eingegrenzt. Die neue Trump-Administration hingegen ist in der geopolitisch gefährlichsten Zeit seit dem Ende des Kalten Kriegs ideologisch radikalisiert und institutionell nicht zurückgebunden.
Drei zentrale Entwicklungen erklären die wachsende Sorge des Baltikums: Erstens hat Trump wiederholt Feindseligkeit gegenüber traditionellen Verbündeten gezeigt. So stellt er die dänische Souveränität über Grönland infrage, droht mit höheren Zöllen auf europäische Güter und spielt Kanadas Souveränität herunter. Der Ausschluss Europas von Ukrainegesprächen, Drohungen, sich aus der NATO zurückzuziehen, und eine Hinwendung zu Asien deuten darauf hin, dass es bei seiner Forderung nach 5 Prozent Verteidigungsausgaben mehr um eine Loslösung als um echtes Engagement für die kollektive Sicherheit gehen könnte. Zweitens bewundert Trump offen Autokraten wie Vladimir Putin, Xi Jinping und Kim Jong Un, während seine Rhetorik gegenüber Demokratien aggressiv ist. Oft scheint er manipuliert von autoritären Anführern, die seinem Ego schmeicheln. Schließlich zeigt er mit seiner ungeschickten Ukraine-Diplomatie – er gab die ukrainische NATO-Mitgliedschaft auf und machte territoriale Zugeständnisse, bevor die Gespräche begannen – strategische Naivität und riskiert, Moskau zu ermutigen. Indem er sich auf die Seite von Autokraten stellt und Verbündete verprellt, bedroht Trump die liberale Ordnung, die seit dem Kalten Krieg die Führungsposition der USA untermauert hat.
Baltische Sicherheitsstrategie
Aufgrund dieses volatilen Umfelds richten die baltischen Staaten ihren strategischen Ansatz neu aus, basierend auf einer Variation von Hastings Ismays berühmtem Zitat über die NATO, „die Sowjets draußen, die Amerikaner drin und die Deutschen klein zu halten“. Dieses Mal scheint am zentralsten, „die Russen draußen, die Amerikaner ruhig und die Europäer vereinigt zu halten“.
Um „die Russen draußen zu halten“, verstärken die baltischen Staaten die Abschreckung. Sie übertreffen die NATO-Ziele für Verteidigungsausgaben, wobei sich Estland 3 Prozent des BIP nähert (2026 sollen es 5 Prozent sein), und setzen sich für eine ständige alliierte Präsenz auf ihrem Territorium ein. Über die traditionelle Verteidigung hinaus stehen sie an vorderster Front bei der Abwehr hybrider Bedrohungen, darunter Desinformation, Cyberangriffe und wirtschaftlicher Zwang. Hierbei haben sie innerhalb der EU und NATO Standards gesetzt.
Um „die Amerikaner ruhig zu halten“, bekäftigen die baltischen Länder ihren Wert als standhafte Verbündete. Sie gehören zu den zuverlässigsten Mitwirkenden der NATO, beherbergen multinationale Kampftruppen und bewahren trotz Trumps erratischer Rhetorik eine konsequente proamerikanische Rhetorik. So versuchen sie zu vermeiden, Opfer von Trumps transaktionaler Logik zu werden. Zugleich machen sie sich keine Illusionen: Loyalität garantiert womöglich keinen Schutz in Trumps unberechenbarer Welt. Daher bleibt ihre Haltung zu den USA proaktiv, aber vorsichtig, da frühere Annahmen über die transatlantische Beziehung vielleicht nicht mehr gelten.
In diesem neuen geopolitischen Kapitel gilt für die baltischen Staaten, dass die Priorisierung der europäischen Einheit nicht mehr nur eine Frage des diplomatischen Gleichgewichts ist, sondern eine strategische Notwendigkeit. Angesichts von Trumps Unberechenbarkeit und der Skepsis seiner Administration gegenüber dem Multilateralismus müssen Estland und seine baltischen Partner der Versuchung widerstehen, Washington auf Kosten der innereuropäischen Solidarität entgegenzukommen, auch bei Spannungen zwischen Brüssel und dem Weißen Haus, die höchstwahrscheinlich häufiger werden. Der litauische Außenminister lehnte es kürzlich ab, Dänemark – einen der engagiertesten Verbündeten in der Region – im Disput um Grönland offen zu unterstützen, weil es sich um eine bilaterale Angelegenheit handle.[3] Obwohl eine neutrale Haltung beabsichtigt war, wird so das gegenseitige Vertrauen riskiert, auf das kleine Staaten wie Litauen angewiesen sind. Ein Nachgeben gegenüber Trumps Launen, selbst wenn es als Pragmatismus getarnt ist, kann zu Spaltungen in der EU führen und das Bild der Einheit schwächen, das Gegner abschreckt. Für die baltischen Staaten – Nationen, die sich seit langem für den Vorrang internationaler Normen vor roher Gewalt einsetzen, – wäre es ein gefährliches Spiel, diese prinzipientreue Haltung aufzugeben, um Washington zu besänftigen. Damit würden sie eine Logik des Eigeninteresses bestätigen, die sich später gegen sie richten könnte. In Krisenmomenten könnte das Argument „Das ist nicht unser Kampf“ zurückschallen und sie isoliert, statt geschützt zurücklassen.
Während die USA ein Eckpfeiler der baltischen Sicherheit bleiben, hat sich die EU ebenfalls zu einem bedeutenden Sicherheitsakteur entwickelt. Zudem wird die Sicherheit der drei baltischen Staaten durch NATO-Truppen in der Region vor allem von europäischen und kanadischen Truppen gewährleistet, nicht von amerikanischen Soldaten. Solange die europäische Einheit intakt bleibt und das Prinzip „Jeder für sich“ nicht um sich greift, bleiben diese Kräfte wohl vor Ort und schrecken den russischen Imperialismus weiterhin ab.
Ein baltisches Rezept?
Da die regelbasierte Ordnung sowohl von außen als auch von innen herausgefordert wird, müssen die baltischen Staaten als Wächter der Einheit dienen, nicht nur um sich Russlands Aggression zu widersetzen, sondern auch um das europäische Projekt selbst zu verteidigen. In Zukunft wird ihre Sicherheit weniger von amerikanischen Garantien abhängen, sondern von einem widerstandsfähigen, geschlossenen Europa, das fähig ist, Stürmen zu trotzen – selbst solchen von der anderen Seite des Atlantiks.
Um diese Zukunft sicherzustellen, ist maximale Abschreckung gegenüber Russland unerlässlich. Das bedeutet starke und nachhaltige Investitionen in die europäische Verteidigung entsprechend der ReArm Europe-Initiative der Europäischen Kommission. Hier gehen die baltischen Staaten nicht nur mit gutem Beispiel voran, sondern drängen auch andere dazu, es ihnen gleichzutun. Zugleich muss die EU eine enge Sicherheitsbindung mit der Ukraine eingehen. Wenn die Ukraine fällt, wird die Bedrohung für Europa direkt und unmittelbar werden. Die Sicherstellung der Widerstandsfähigkeit der Ukraine ist daher untrennbar mit Europas eigener Verteidigung verbunden. Ebenso wichtig ist, die militärische Präsenz Europas in der Region aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Schließlich muss die EU ihren strategischen Horizont erweitern. Sie sollte sich als breitere Gemeinschaft von Demokratien – ein „Europa+“ – positionieren, die denen eine Heimat bietet, die von der Entwicklung der internationalen Ordnung alarmiert sind. Dazu gehören gleichgesinnte Partner wie Großbritannien, Kanada und andere, die die gleichen Werte und Interessen teilen.
Aufgrund ihrer Größe verstehen die baltischen Staaten besser als die meisten anderen, was Paul-Henri Spaak vor Jahrzehnten feststellte: „Es gibt zwei Arten Länder in Europa – diejenigen, die klein sind, und diejenigen, die noch nicht wissen, dass sie klein sind.“ Sie sind nun in der Position, dazu beizutragen, dass auch Berlin, Paris und Rom dies verstehen.
Anmerkungen:
[1]) Braghiroli, Stefano: Baltic Voices. From the Fringes to the Fore. In: New Eastern Europe 3- 4 (2023), S. 45–50.
[2]) Braghiroli, Stefano: The Baltics Have Grown up. Do not Call them New Member States. In: New Eastern Europe 4 (2024), S. 27–32.
[3]) https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/2472701/lithuania-does-not-take-sides-on-greenland-issue-fm
Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.
Stefano Braghiroli, Dr., Dozent und Programmdirektor für Europastudien am Johan Skytte Institut für Politische Studien an der Universität Tartu.
Bild: Die "Freundschaftsbrücke" zwischen Estland und Russland in Narva (Foto: A. Savin / Wikimedia Commons).