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Fernes Ereignis oder „Naturkatastrophe“. Russische Kriegswahrnehmungen

RGOW 06/2025
Svetlana Erpyleva, Sasha Kappinen

Qualitative soziologische Umfragen zeigen, dass die Meinungen einer Mehrheit der russischen Bevölkerung zum Krieg inkonsistent, instabil und situationsbedingt sind. Wer nicht direkt betroffen ist, blendet ihn aus. Wer direkt betroffen ist, erlebt ihn als schicksalshafte „Naturkatastrophe“.

Die Mehrheit der russischen Bevölkerung empfand Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 als moralischen Schock:[1] „Mich hat das umgehauen“, „Ich konnte es nicht glauben“, „Krieg – das ist ein Schock und schrecklich“, „Das darf nicht sein“ – dies hörten wir immer und immer wieder, als wir Ende Februar, Anfang März 2022 begannen, soziologische Interviews mit Russinnen und Russen zu führen. Wir, die Autorinnen dieses Beitrags und unsere Kollegen im Laboratorium für öffentliche Soziologie[2], haben diesen Schock selbst erlebt. Unsere Reaktion darauf war eine bis heute andauernde groß angelegte Studie über die Wahrnehmung des Krieges in der russischen Bevölkerung, die auf einer „qualitativen“ Methodik basiert: Wir sammeln öffentliche Interviews und führen ethnographische Beobachtungen innerhalb Russlands durch. Uns interessiert, wie Russinnen und Russen den Krieg reflektieren und sich in Kriegszeiten verhalten.

Im Frühling 2022, während der ersten Phase dieser Studie, haben wir 213 Interviews geführt, die sehr unterschiedliche Ansichten zum Krieg widerspiegelten. In der zweiten Phase, sechs Monate später, konzentrierten wir uns auf diejenigen, die die russische „Spezialoperation“ in der Ukraine in irgendeiner Weise rechtfertigten und sprachen mit 88 Personen. In der dritten Phase im Herbst 2023 reisten wir in die Oblast Sverdlovsk, in die Region Krasnodar und die Republik Burjatien, wo wir beobachteten, wie die Städte, Siedlungen und Dörfer in Kriegszeiten leben, und wie die Befragten den Krieg nicht nur mit uns Forschenden diskutieren, sondern auch im Alltag. Die vierte Phase führte uns im Herbst 2024 in die Oblast Kursk, die zu diesem Zeitpunkt zum Teil von ukrainischen Truppen besetzt war. Wir wollten herausfinden, wie unmittelbar vom Krieg betroffene Russen das Geschehen erleben und wahrnehmen.

Vom Schock zur Bewertung
Ziemlich schnell, bereits in den ersten Kriegstagen begann der anfängliche Schock abzuflauen und an seine Stelle traten erste Bewertungen des Krieges. Unsere Forschung zeigte, dass diejenigen, die bereits in einem oppositionellen Umfeld unterwegs waren oder Informationen aus unabhängigen Medien konsumierten, ihre negativen Gefühle in eine negative „Haltung“ umwandelten, d. h. den Krieg verurteilten.[3] Wer sich nicht in diesem Umfeld bewegte und sich im Prinzip nicht für Politik interessierte, hatte nicht die Fähigkeit, seine Emotionen in eine politische Haltung umzuwandeln. Weil sie nicht lange in einem Schockzustand verharren konnten und der Staat sie aktiv davon überzeugte, dass der Angriff notwendig gewesen sei, begannen diese Menschen allmählich, den Krieg zu rechtfertigen. Dazu bedienten sie sich der vom Regime vorgelegten Argumente – und davon gab es nicht wenige. Sie taten dies aber nicht so sehr, weil sie den Argumenten glaubten, sondern weil jene halfen, mit dem ursprünglichen Schock umzugehen und die Situation zu normalisieren.

Eine Besonderheit der ersten Monate war, dass die Menschen in Russland den Krieg aktiv und eifrig bewerteten. Der Angriff auf die Ukraine, die Bombardierung bekannter Städte, in denen viele ihrer Verwandten lebten, war ein einmaliges Ereignis, das ihrem gesunden Menschenverstand widersprach. Deshalb musste dieses Ereignis erklärt und bei vielen auch gerechtfertigt werden. Unter Freunden fanden viele Streitgespräche über den Krieg statt, die bis hin zum Bruch familiärer Bande führten.

Apolitische Rechtfertigung
Im Herbst 2022 waren die Meinungen zum Krieg mehr oder weniger gefestigt. Die zweite Phase unserer Studie, darunter auch Interviews mit Personen aus der ersten Phase, zeigte, dass sich der Blick auf den Krieg nicht radikal verändert hatte: die Menschen wechselten nicht von einem ins andere Lager über, doch konnten sich Nuancen der Wahrnehmung des Krieges in verschiedene Richtungen entwickeln. Mit anderen Worten: Die Wahrnehmung des Krieges erwies sich bei vielen als gleichzeitig „unsicher“, so dass sie sich nicht eindeutig als Gegner oder Befürworter des Krieges positionieren konnten, und „instabil“, widersprüchlich und wandelbar. Ihre Ansichten konnten sich unter bestimmten Umständen in diese oder jene Richtung verschieben.[4]

Insgesamt stellten diese widersprüchlichen, nicht radikalen Bewertungen des Krieges eine passive, apolitische Rechtfertigung des Krieges dar. Dieser Rechtfertigungstyp wies einige spezifische Merkmale auf:[5] Erstens war die Sichtweise auf den Krieg nicht konsistent, einzelne Äußerungen derselben Person konnten sich widersprechen. Zweitens war die Rechtfertigung des Krieges nicht von positiven, sondern von negativen Emotionen begleitet. Drittens hatten Russen, die den Krieg rechtfertigen und einen „Sieg“ wünschten, im Grunde keine Vorstellung davon, wie dieser „Sieg“ aussehen könnte; sie nahmen einfach an, dass ein „Sieg“ besser als eine „Niederlage“ sei. Viertens stellten sie den Krieg nicht als etwas Erstrebenswertes dar, sondern als „das kleinere Übel“, als unangenehmen, aber notwendigen Akt.

Situationsbezogene Bewertung
Eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn hat sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung, die nicht direkt vom Krieg betroffen ist, an das Leben vor diesem Hintergrund gewöhnt. Unsere Feldforschung vom Herbst 2023 ergab, dass die Menschen selten miteinander über den Krieg sprachen und ihn aus ihrem Leben auszublenden versuchten. Gleichzeitig zeigte sich in Situationen, in denen jemand darüber zu sprechen begann, dass viele etwas dazu zu sagen haben, und dass sich viele um das Schicksal von Bekannten oder die unsichere Zukunft Sorgen machten.

Die Möglichkeit, Diskussionen des Krieges in natürlichen Situationen – bei Treffen von Freunden, im Kaffee, in Bars, im Taxi – zu beobachten, zeigte, wie dieselben Menschen je nach Gesprächskontext zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen können. Personen, die in der neutralen Situation eines soziologischen Interviews den Krieg gerechtfertigt, sich aber von ihm distanziert hatten („Das passiert einfach, und wir müssen es annehmen“, „Die Regierung weiß am besten, was sie macht“), konnten ihn in einer anderen Situation kritisieren, oder umgekehrt emotional und engagiert verteidigen. Wenn ihre Gesprächspartner begannen, Russland Verbrechen gegen die Ukraine vorzuwerfen, verteidigten die Menschen oft ihr Land. Sie begannen sich mit der kriegsführenden Regierung zu identifizieren, indem sie das Pronomen „wir“ benutzten. Die gegnerische Seite (Ukraine, NATO, Westen…) beschrieben sie mit dem Pronomen „sie“.

Wenn aber jemand der Gesprächspartner den Schaden ansprach, den die „Spezialoperation“ den Russen (und nicht den Ukrainern!) zufügt, dann konnten selbst die vorherigen Verteidiger den Krieg kritisieren. In dieser Situation begannen unsere Gesprächspartner, die „schlechte“ Regierung den „normalen Menschen“ gegenüberzustellen. Das Pronomen „sie“ bezeichnete in diesem Fall nicht die ukrainische Seite, sondern die eigene russische Regierung. „Wir“ hingegen („unsere Jungs“) bezieht sich auf das „Volk“. Wenn also Russland beschuldigt wird, Verbrechen gegen unschuldige Bürger eines anderen Landes zu begehen, neigen viele Befragte dazu, die Notwendigkeit des Krieges zu verteidigen, doch wenn die negativen Folgen für sie selbst hervorgehoben werden, kann das Kritik am Krieg hervorrufen.

Das bedeutet, dass hinter einem Großteil der hohen Zustimmungswerte für den Krieg, die wir in Meinungsumfragen sehen, keine festgelegte Haltung oder eine artikulierte „Meinung“ steht. Da der Staat alle, die die „Spezialoperation“ nicht unterstützen, als „Verräter“ brandmarkt, neigt die Mehrheit der politikfernen Russen dazu, den Krieg auf die eine oder andere Weise zu rechtfertigen, doch selbst sie können ihre Bewertung in Abhängigkeit von den Umständen und dem Gesprächskontext ändern. So oder so ist der Krieg nicht etwas, was sie täglich beschäftigt – diese Rolle haben längst wieder andere alltägliche Sorgen übernommen. Diese Situation gilt nach wie vor für die Mehrheit der russischen Bevölkerung, die nicht direkt vom Krieg betroffen ist.

Krieg als erlebte Katastrophe

Der Krieg blieb für einen Großteil der russischen Bevölkerung ein fernes Ereignis, nur ein kleiner Teil ist direkt von ihm betroffen. Er schuf allerdings neue soziale Gruppen, dazu zählen z. B. Verwandte von gewaltsam zum Krieg eingezogenen Männern, oder die „neuen Freiwilligen“, die ihren Lebenssinn darin sehen, Hilfe für die Front oder für Flüchtlinge zu organisieren. Zu ihnen gehören auch Bewohner grenznaher Gebiete, die unter regelmäßigem Beschuss leben, und für die der Krieg eine tägliche Realität geworden ist.

Nachdem die ukrainische Armee im Herbst 2024 einen Teil der russischen Oblast Kursk erobert hatte, haben wir in Kursk eine Umfrage durchgeführt. Tausende Bewohner der grenznahen Dörfer und Siedlungen hatten damals ihre Häuser verloren (manche für immer) und wurden plötzlich zu Flüchtlingen, die ihr Leben in der regionalen Hauptstadt neu aufbauen mussten. Kursk wurde von Flüchtlingen überrollt, es entstanden Notunterkünfte und Zentren für humanitäre Hilfe mit lokalen und zugereisten Freiwilligen. Die Mietpreise stiegen um ein Vielfaches. Zudem dröhnten mehrmals täglich die Alarmsirenen der Stadt. Man hätte meinen können, dass all dies die Wahrnehmung des Krieges in die eine oder andere Richtung hätte verändern können. Doch nichts davon geschah.

Unsere Untersuchung zeigte, dass die Mehrheit der Bewohner der Oblast Kursk – wir befragten Flüchtlinge, Stadtbewohner und Freiwillige – wertenden Urteilen über den Krieg einfach auswichen. Sie sahen weder Bedarf noch Sinn solcher Fragen. Im Unterschied zu Russen, die weit weg von der Front leben, sprachen diese Menschen jedoch ständig über den Krieg: aber nicht über seine Ursachen oder seinen Sinn, sondern über seine praktischen Folgen, mit denen sie täglich zu tun hatten. Auf die Ursachen des Kriegs oder den Angriff auf die Oblast Kursk angesprochen, wussten sie oft nicht, was sie sagen sollten. Auf die Frage, warum die ukrainische Armee einen Teil russischen Territoriums erobert habe, sagte eine Flüchtlingsfrau: „Ich weiß nicht, sie haben unsere Grenze überschritten. Sie haben die Grenze überschritten und sind bis hierher gekommen.“

Die Kriegsnähe hat die Bewohner der Grenzgebiete nicht für oder gegen das russische politische Regime eingenommen. Die unmittelbare Nähe hat ihnen Folgendes gezeigt: Der Krieg entzieht sich vollkommen der Kontrolle ihres Willens und ist unabhängig von ihren Handlungen oder Entscheidungen. Das bedeutet, dass es sinnlos ist, ihn zu bewerten – wir demonstrieren ja auch nicht für oder gegen Überschwemmungen, Stürme, Erdbeben und andere Naturkatastrophen. Genau wie eine Naturkatastrophe erlebten die Bewohner der grenznahen Gebiete die bei ihnen gelandete „Spezialoperation“. Deshalb führten Fragen über die Ursachen oder nach einer Bewertung des Krieges bei einer Mehrheit unserer Gesprächspartner in eine Sackgasse. Katastrophen geschehen unerwartet, und die ukrainische Armee „kam und kam – bis sie ankam“.

Anmerkungen: 
[1])    https://russiapost.info/society/moral_war

[2])    https://publicsociologylab.com/

[3])    https://russiapost.info/society/passive

[4])    https://re-russia.net/en/expertise/060/

[5])    https://www.posle.media/article/accepting-the-inevitable

Übersetzung aus dem Russischen: Regula M. Zwahlen.

Svetlana Erpyleva, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Public Sociology Laboratory.

Sasha Kappinen, Public Sociology Laboratory.

Bild: Der Krieg ist präsent, wird aber nach Möglichkeit ausgeblendet - Plakatwände in St. Petersburg (Foto: mil.ru C.C.4.0)

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