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Am Ende der Information? – Medien in Belarus

Ingo Petz

Am Ende der Information? – Medien in Belarus

Die belarusischen Machthaber gehen mit massiven Repressionen gegen unabhängige Medien und Journalisten vor. Jüngste Beispiele sind die Blockierung des unabhängigen Mediums tut.by und die Verhaftung des Bloggers Raman Pratasevitsch. Das Vertrauen in die staatsnahen Medien erodiert zusehends.

„Die ersten drei Tage nach der Festnahme war ich allein in der Zelle in Akrestina und schlief die erste Nacht auf einer Matratze. Dann nahmen sie sie mir zum Reinigen weg und gaben sie nicht zurück. Es war kalt. Ich war froh, dass ich einen Wollmantel von zu Hause mitgebracht hatte. Ich schlief darin auf einer kahlen Pritsche. Aber trotzdem musste ich nachts aufstehen und etwas Gymnastik machen, um mich aufzuwärmen. An dem Tag, an dem meine Verwandten einige Sachen für mich an die Gefängniswärter übergaben, haben sie mir die nicht gegeben. Jemand aus dem Korridor rief: Zolotova, Ihr Mann hat Ihnen ein paar Sachen gebracht, aber von mir bekommen sie die nicht.“

Dies sind die Worte von Marina Zolotova, die sie ihrem Anwalt mitgeben konnte. Aus dem Gefängnis, in dem sie seit dem 20. Mai 2021 einsitzt. Sie ist die Chefredakteurin von tut.by, des bedeutendsten unabhängigen Online-Mediums in Belarus, das über drei Millionen Leser erreicht – also rund ein Drittel aller Einwohner des osteuropäischen Landes. Als im vergangenen August der Protestmarsch an der Minsker Zentrale des Medienunternehmens vorbeizog, applaudierten Tausende und riefen immer wieder: „tut.by! tut.by! tut.by!“
Das 2000 gegründete Portal konnte sich trotz der schwierigen politischen Bedingungen in dem seit 1994 autoritär geführten Land als Hort eines professionell arbeitenden Journalismus etablieren und damit nicht nur die Stellung der Staatsmedien von Alexander Lukaschenka unterminieren, sondern auch den Einfluss der russischen Staatsmedien. Die üben vor allem über Fernsehkanäle wie NTW oder ONT einen traditionell großen Einfluss auf die Meinungsbildung in Belarus aus. Zolotova sitzt zusammen mit elf weiteren Mitarbeitern von tut.by im Minsker Gefängnis von Akrestina in Untersuchungshaft. Drei weitere stehen unter Hausarrest. Die Haftanstalt wurde seit Beginn der Proteste, die nach dem 9. August 2021 wegen massiver Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen gegen den Machtapparat von Lukaschenka aufbrandeten (s. RGOW 12/2020 und RGOW 4–5/2021), zum traurigen Symbol der Repressionen, der Gewalt und der Folter. So versucht der Staat, den Protestwillen zu brechen und die eigene Macht und Kontrolle im Land wiederherzustellen. Dazu gehört auch die Kontrolle über den Informationsraum. Der Staat will die Deutungshoheit zurück, mit der er das gesellschaftspolitische Geschehen und politische Debatten zumindest weitgehend kontrollieren konnte. Dazu setzt er massive Repressionen und Gewalt ein, von denen in den vergangenen Monaten auch und gerade Medien und Journalisten betroffen sind.

Verschärfte rechtliche Situation für Medien
Bis heute sind seit Beginn des Jahres fast 500 Journalisten kurzzeitig festgenommen worden. Aktuell befinden sich 26 hinter Gittern oder in Hausarrest. Die Macherinnen und Macher der Organisation Press Club Belarus erwartet sogar ein Strafprozess und möglicherweise eine mehrjährige Haftstrafe. Wie beispielsweise Julia Slutskaja, die Gründerin der Initiative, die sich seit dem 22. Dezember 2020 in Untersuchungshaft befindet. Auch gegen den bekannten Videoblogger Alexander Ivulin wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Ivulin betreibt einen YouTube-Kanal, in dem er sich mit gesellschaftspolitischen Themen rund um den Fußball beschäftigt. Zudem schreibt er für das Sportportal Tribuna, das sich mit investigativen Recherchen zur Ermordung des Aktivisten Raman Bandarenka im vergangenen November hervorgetan hat. Ihm wird vorgeworfen, Massenproteste provoziert und organisiert zu haben. Ein weiterer Fall, der für internationale Kritik sorgt, ist die Anklage wegen angeblichen „Hochverrats“ gegen den bekannten Journalisten Andrei Aljaksandrau. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Journalisten wird es mit einer in den vergangenen Wochen verschärften Gesetzgebung nahezu unmöglich gemacht, ihrer Arbeit nachzugehen. Das Berichten und Live-Streamen von nichtgenehmigten Massenkundgebungen wurde verboten. Zwei Reporterinnen vom unabhängigen TV-Sender Belsat, Katerina Andrejeva und Darja Tschulzova, wurden für das Berichten von einer Demonstration, die am 15. November 2020 stattfand, zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Bestimmte Materialien, Themen und ganze Medien können mittlerweile als extremistisch eingestuft werden. So erging es der Lokalzeitung Intex-press in Baranavitschy. Sie hatte ein Interview mit der Oppositionsführerin Svjatlana Zichanouskaja abgedruckt und wurde für die „Verbreitung verbotener Informationen“ zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1 900 Euro verdonnert. Das Mediengesetz, das den „Umgang mit verbotenen Materialien“ regeln soll, ist entsprechend schwammig gehalten. Auch steht der Plan der Generalstaatsanwaltschaft im Raum, tut.by generell als extremistisch einstufen zu lassen. Einen derartigen Ansatz könnte die Regierung dann auch auf andere unabhängige Medien ausweiten, meint der bekannte Politologe Waleri Karbalevitsch. Dadurch bliebe den Journalisten nur, „entweder das Land zu verlassen oder ins Gefängnis zu wandern oder den Beruf zu wechseln“.
Der Lukaschenka-Staat nahm die unabhängigen Medien bereits in den ersten Tagen der Proteste im August ins Fadenkreuz. Das Internet wurde mehrere Tage lahmgelegt, über 70 Internetmedien blockiert. Belarusische Medien sind das Arbeiten in extrem feindlicher Atmosphäre gewohnt und findig darin, andere Wege aufzutun, um Informationen zu verbreiten. So wichen viele journalistische Medien auf den Messengerdienst Telegram aus, wo sich zudem viele neue Informationskanäle bildeten oder andere an Bedeutung gewannen. Wie beispielsweise Nexta – ein Kanal, der aus einem Videoblog entstand und der zeitweise fast zwei Millionen Abonnenten hatte. Nexta ist zwar kein Medium, das strikt nach journalistischen Standards arbeitet. Aber vor allem für die Visualisierung der Proteste in der internationalen Welt spielte der Kanal eine entscheidende Rolle. 
In der Logik des Regimes sind es die unabhängigen Medien und solche Kanäle, die nicht nur Informationen verbreiten und aufbereiten, sondern die Proteste angefacht und provoziert haben. Deswegen geriet auch der junge Journalist Raman Pratasevitsch zum persönlichen Feind der belarusischen Machthaber, die eine Flugzeuglandung in Minsk erzwangen, um ihn festnehmen, unter Druck zu setzen und ihn in den Staatsmedien als reuigen Revolutionär präsentieren zu können. Pratasevitsch hatte Nexta als Chefredakteur bis September 2020 geleitet.
„Unabhängige Medien und Journalisten hatten es in den vergangenen 25 Jahren immer schwer“, sagte Barys Haretski, Direktor der Belarusischen Journalisten-Union BAJ, bei einer Diskussion im Dezember 2020. „Es gab immer wieder Attacken auf bestimmte Medien, Journalisten wurden zu Haft- und Geldstrafen verurteilt, Seiten wurden blockiert, Zeitungen vom staatlichen Distributionssystem ausgeschlossen. Aber das, was seit August passiert, hat eine gänzlich neue Qualität. Journalisten werden quasi als Feinde bekämpft. Wir als Verband, die versuchen, Journalisten auch rechtliche Hilfe zu ermöglichen, sind teilweise völlig hilflos, weil rechtliche Willkür herrscht. Früher gab es zumindest einen rechtlichen Rahmen, der alles andere als ideal war, aber der einigermaßen funktionierte.“ Auch die Büroräume von BAJ wurden im Februar durchsucht. Aktuell unterzieht das Justizministerium die registrierte NGO einem rechtlichen Monitoring.

Ausweichen ins Ausland
Es ist zu befürchten, dass die belarusischen Machthaber auch in den kommenden Monaten versuchen werden, die mühsam aufgebauten Grundfesten der unabhängigen Medien in Belarus zumindest so weit einzuschränken, dass der Verbreitung von unabhängigen Informationen enge Grenzen gesetzt werden. Dabei, so scheint es, nimmt der Repressionsapparat gerade die Medien ins Visier, die eine besonders große Reichweite und eine enge Bindung zu ihren Lesern aufgebaut haben – wie beispielsweise das lokale Internetportal Hrodna.life, das über das an Polen grenzende Gebiet um die historische Stadt Hrodna berichtet. Hrodna.life wurde kürzlich von einem Gericht als „extremistisch“ eingestuft. Möglich, dass das Medium seine Arbeit aufgeben wird. Und die Seite von Nasha Niva, ein Online-Medium, das aus der ältesten belarusischsprachigen Zeitung hervorgegangen ist, wurde am 8. Juli 2021 blockiert. Zudem wurden die Büroräume in Minsk durchsucht, und mehrere Mitarbeiter festgenommen, darunter Chefredaktor Jahor Marzinovitsch.
Aus Angst und Perspektivlosigkeit haben viele Journalisten das Land bereits verlassen oder planen zu gehen. Medien schicken vereinzelt Mitarbeiter nach Polen, in die Ukraine oder nach Vilnius, um gewährleisten zu können, dass sie auch dann noch erscheinen können, falls sie Besuch von Strafverfolgungsbehörden bekommen, Festplatten und Computer konfisziert und Mitarbeiter festgenommen werden. Bei der Anzahl hochqualifizierter Journalisten, die sich bereits im Ausland befindet, ist es denkbar, dass in naher Zukunft ein belarusisches Auslandsmedium entsteht, entsprechend dem russischen Medium meduza.io, das seinen Sitz in Riga hat. Ehemalige Mitarbeiter von tut.by haben bereits ein neues Medium gegründet: zerkalo.io – allerdings in Belarus.
Auch zielt die Strategie der Machthaber darauf ab, Informationen und Beiträge über das repressive Vorgehen zu minimieren, wenn nicht gänzlich zu unterbinden. Bereits im Oktober wurden deshalb den lokalen Korrespondenten von Auslandsmedien wie Belsat, Deutsche Welle oder Radio Svaboda oder von internationalen Nachrichtenagenturen wie AP oder Bloomberg die Akkreditierungen entzogen. Internationalen Journalisten ist es bis heute nahezu unmöglich, eine offizielle Akkreditierung zu erhalten und von Belarus aus zu berichten. Einer der wenigen, die eine gültige Akkreditierung besitzen und der kürzlich von vor Ort berichtete, ist der Moskauer ARD-Korrespondent Demian von Osten. Auf Facebook schilderte er seine Eindrücke über einen einwöchigen Aufenthalt: „Interviewpartner, die sich mit dir nicht zu Hause treffen, sondern in einer leerstehenden Wohnung, in die man mit zeitlichem Abstand von 20 Minuten hineingeht … Ehemalige Militärs, die sich zur Stimmung in der Truppe nicht äußern wollen – aus Angst ihre Kontakte zu gefährden. Eine bedrückende Stimmung in der Hauptstadt: Macht man ein Foto, sieht es aus wie heile Welt – spricht man mit den Menschen, spürt man überall die Angst.“
Der Schlag am 19. Mai 2021 gegen tut.by kam also nicht allzu überraschend. Bereits im Dezember war dem Portal der Medienstatus aberkannt worden. Dennoch gingen die tut.by-Journalisten weiterhin gewissenhaft ihrer Arbeit nach. Schließlich wurden die Webseite des Portals und zahlreiche Spiegelserver blockiert, die Zentrale in Minsk sowie Regionalbüros durchsucht, Dokumente konfisziert und Mitarbeiter festgenommen. Hauptvorwurf der Staatsanwaltschaft: Steuerhinterziehung im großen Stil. Das allerdings ist ein gängiger Vorwurf und ein Repressionsmittel der Behörden, um unabhängige Medien vor Gericht zu zerren und ihnen das Leben noch schwerer zu machen. „Gegenüber der Willkürherrschaft spürst du die völlige Schutzlosigkeit“, ließ die festgenommene Zolotava wissen, „aber keine Verzweiflung.“

Verändertes Medienverhalten in Belarus
Eine Hoffnung für die unabhängigen Medien ist womöglich der breite Selbstermächtigungsprozess selbst, der sich mit dem Aufflammen der friedlichen Protestbewegung in Gang gesetzt hat. Verschiedene Studien wie beispielsweise die des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS)1 haben gezeigt, dass einerseits demokratische Werte einen Stimulationseffekt für die Proteste hatten, und dass andererseits staatliche Institutionen sowie auch staatliche Medien massiv an Vertrauen eingebüßt haben. Dieser Prozess ist bereits in den vergangenen Jahren schleichend in Gang gekommen, er hat aber während der Corona-Krise, die der belarusische Staat mehr oder weniger negiert hat, einen ordentlichen Schub bekommen. Die Menschen machten sich auch auf die Suche nach Medien, die verlässliche Informationen liefern. Diese Entwicklung wurde von der massiven Wahlfälschung, die Unmut und Wut produzierte, und der ausufernden Gewalt, mit der die Autoritäten versuchten, die Proteste niederzuschlagen, weiter befeuert. Diese Tendenz spiegelt sich im Medienverhalten der Belarusen: Je jünger die Menschen sind, desto weniger nutzen sie die klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen. Und: Je jünger sie sind, desto weniger vertrauen sie laut Meinungsumfragen staatsnahen Medien und Informationsportalen. Die deutlich gestiegene Politisierung in der Gesellschaft führt unter anderem dazu, dass auch Sport- oder Lifestyle-Medien wie Tribuna oder The Village Belarus gesellschaftspolitische Beiträge liefern. 
Trotz der gezielten Attacken und Repressionen leisten Journalisten und Medien weiterhin eine Arbeit auf hohem journalistischem Niveau, auch tut.by, das über Telegram veröffentlicht. Barys Haretski von BAJ kann sich jedenfalls nicht vorstellen, dass die Repressionen dazu führen, dass die Menschen ihr Medienverhalten wieder ändern und ihr Vertrauen wie früher den Staatsmedien wie der Nachrichtenagentur Belta schenken werden. Er sagt: „Die belarusische Gesellschaft hat einen großen Sprung in Richtung freier Information gemacht.“
Ob der Staat, der sich selbst in einer gefährlichen Paranoia-Spirale befindet, tatsächlich gewillt ist, unabhängige Medien vollständig auszuschalten? Damit würde er sich ins eigene Bein schießen, so die Argumentation des Politologen und Medienmachers Pjotr Kuznetsov: „Objektive Informationen werden von der Exekutive, von Wirtschaftsbehörden, Unternehmen, kulturellen und karitativen Organisationen benötigt. Wenn alle gesellschaftlichen Mechanismen und Institutionen beginnen, buchstäblich blind zu funktionieren (schließlich sind auch Soziologie und Forschung verboten), wird dies zur Lähmung des Managementsystems und der Wirtschaft führen.“ Und Kuznetsov sieht eine weitere Gefahr: „Der belarusische Staat selbst, einschließlich derer, die ihn heute verteidigen, könnte sich als absolut wehrlos gegen eine reale externe Informationsaggression erweisen.“

Anmerkung
1)        Douglas, Nadja; Elsner, Regina; Krawatzek, Félix; Langbein, Julia; Sasse, Gwendolyn: Belarus at a Crossroads: Attitudes on Social and Political Change. ZoiS Report, 3/2021, https://www.zois-berlin.de/publikationen/belarus-at-a-crossroads-attitudes-on-social-and-political-change.

Ingo Petz berichtet seit über 20 Jahren zu Belarus. Seit November 2020 leitet er die Sektion Belarus beim Medienprojekt dekoder.org.

pdfRGOW 7–8/2021, S. 3–5

Foto: Solidaritätsaktion für Raman Pratasevitsch in Polen (Паўлюк Шапецька – Wikimedia Commons).