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„Wir werden gebraucht!“ – Ukrainische Down-Syndrom Organisation

Regula Spalinger im Gespräch mit Tetjana Pavljuk und Ivanna Vikhtynska

Die Ukrainische Down-Syndrom Organisation ist aus einer Elterninitiative entstanden, die die Lebensbedingungen von Kindern mit Down-Syndrom in der Ukraine verbessern wollte. Die Organisation kümmert sich vor allem um eine frühkindliche Begleitung, unterstützt die schulische Inklusion und hilft beim Eintritt ins Berufsleben. Auch im Krieg geht die Arbeit der Organisation weiter, wie die Leiterin Tetjana Pavljuk, und die Verantwortliche für Arbeitsintegration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Down-Syndrom, Ivanna Vikhtynska, berichten. Benötigt werden vor allem humanitäre Hilfe und psychologische Unterstützung.

Wie ist Ihre Organisation entstanden?
Tetjana Pavljuk: Unsere Organisation wurde 2003 durch Eltern von Kindern mit Down-Syndrom gegründet. Vor 20 Jahren gab es in unserem Land noch keine spezialisierten Beratungsstellen oder Tageseinrichtungen für solche Kinder. Daher verzichteten damals etwa 80 Prozent der Eltern von Kindern mit Down-Syndrom in der Geburtsklinik auf ihr Sorgerecht. Die Verantwortung für die Kinder wurde staatlichen Kinderheimen übertragen, und auch als Erwachsene verbrachten sie ihr ganzes Leben in Heimen. Die Elterngruppe wollte die Situation ändern und suchte Kontakt zu Organisationen im Westen, um sich auszutauschen und von deren Erfahrungen zu lernen.
Aus dieser Eltern-Initiativgruppe entstand in den folgenden Jahren eine professionelle Organisation mit geschulten Mitarbeitenden. Als Folge der Sowjetzeit haben wir nach wie vor in unserem Land mit der Mentalität zu kämpfen, dass sich manche Eltern von Kindern mit Down-Syndrom schämen und ihre Kinder verstecken. Etwas, was im Westen viel weniger verbreitet ist. Diese Scham versuchen wir positiv zu verändern. Die Statistik hat sich zum Glück seit der Gründung unserer Organisation komplett gewandelt: 80 Prozent der ukrainischen Kinder mit Down-Syndrom bleiben heute in ihren Familien, da mittlerweile auch die dafür notwendige Infrastruktur vorhanden ist. Unterdessen gibt es für sie Kindergärten und Schulen. Seit fünf Jahren existiert auch eine gesetzliche Grundlage, welche die Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigungen in Regelklassen erlaubt. Dabei sind die regionalen Unterschiede allerdings groß und das Engagement Einzelner ist entscheidend. Unsere Organisation war zweifellos ein wichtiger Faktor hin zu den beschriebenen Verbesserungen und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel.

Wie begleiten Sie die Familien mit Kindern mit Down-Syndrom?
Ivanna Vikhtynska: Wir haben die Arbeit nach Altersgruppen der Kinder gegliedert. So gibt es Spezialistinnen, welche die Mütter bereits in der Geburtsklinik besuchen. Um den Eltern in Gesprächen die Annahme ihres Kindes zu erleichtern, vermitteln sie Fachwissen, Erfahrungen anderer Eltern und leisten psychologische Unterstützung. Danach folgt die Begleitung der ersten Lebensjahre von Kind und Familie. Aus der eigenen Praxis wie auch derjenigen unserer europäischen Partner wissen wir, wie wichtig diese Phase für die Qualität der späteren Lebensalter ist. Deshalb besteht innerhalb unserer Kyjiwer NGO ein Zentrum für frühkindliche Entwicklung, zu der auch alle ukrainischen Regionen Zugang haben. Eine wichtige Aufgabe ist zudem die medizinische Aufklärung der Eltern für alle Lebensalter, denn Kinder mit Down-Syndrom leiden in der Regel an bestimmten Begleiterkrankungen, wobei oft das Herz, das Hormon- und das Verdauungssystem besondere ärztliche Aufmerksamkeit erfordern.
Für Kinder im Schulalter haben wir das „Projekt 21-3“ entwickelt. Benannt nach dem Chromosom 21, das bei Kindern mit Trisomie 21 in jeder Körperzelle dreimal anstatt zweimal vorhanden ist (daher wird beispielsweise der Welt-Down-Syndrom-Tag auch am symbolischen Datum des 21. März begangen). Durch das vom ukrainischen Bildungsministerium unterstützte „Projekt 21-3“ konnten wir in drei Schulklassen zeigen, welche Lernerfolge sich bei einem an die Bedürfnisse der Kinder angepassten Unterricht einstellen. Das Projekt fand ein großes mediales Echo. Kinder mit Down-Syndrom wissen damit in der Regel recht gut umzugehen. Ein Teil ihrer Mission, könnte man sagen, liegt in ihrer Fähigkeit, Verständnis für das Einzigartige in jedem Menschen zu wecken.

Sie selbst begleiten Jugendliche mit Down-Syndrom ins Arbeitsleben. Wie unterstützen sie diese jungen Menschen?
Ivanna Vikhtynska: Unsere erste Aufgabe für eine erfolgreiche Arbeitsintegration ist, die einzelnen Jugendlichen mit ihren besonderen Voraussetzungen und Talenten genau kennenzulernen. Im Bereich der kommunikativen Fähigkeiten sind beispielsweise manche gesprächig und offen, andere dagegen eher introvertiert. Wo immer dies möglich ist, suchen wir eine geeignete Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt. Dafür begleiten wir den/die Jugendliche(n) durch Coaching und beziehen dabei die Familie eng mit ein. Dieser systemische Ansatz ist eine unbedingte Voraussetzung, denn das Vorhaben kann nur mit der Unterstützung der Familie erfolgreich sein. Nach diesen vorbereitenden Schritten folgt die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen, das den Jugendlichen anstellt. Heutzutage gibt es vermehrt Unternehmen, die neben der Zielsetzung von Gewinnorientierung auch soziale Ziele in ihre Firmenpolitik aufgenommen haben. Um einen Jugendlichen mit Down-Syndrom nachhaltig integrieren zu können, braucht es insbesondere auf der Personalleitungs- und Ausbilderstufe besondere Fachkenntnisse. Zur Wissensvermittlung führen wir daher Trainings durch. Zudem ermutigen wir immer dazu, sich bei auftauchenden Fragen an uns zu richten. Außerdem zeigt unsere Erfahrung, dass eine Coaching-Phase von etwa drei Monaten notwendig ist. Während dieser Zeit begleitet unser(e) Sozialpädagoge/in den Jugendlichen an seinem Arbeitsort und unterstützt sowohl das Personal als auch den Lernenden bei der Einarbeitung. Mit der Zeit kann immer mehr Verantwortung an beide Seiten – Arbeitgeber und Jugendlicher – übergeben werden. Auf diese Art gelingt in den allermeisten Fällen eine erfolgreiche Einarbeitung. 
Neben dieser anspruchsvollsten Variante der Arbeitseingliederung gibt es in einzelnen ukrainischen Städten oder in Kyjiwer Stadtbezirken erste Initiativen zur Einrichtung von Behindertenwerkstätten. Dort werden in der Regel junge Menschen mit verschiedenen Formen von Beeinträchtigung begleitet. In Kyjiw mit seinen vier Millionen Einwohnern müssen solche Vorhaben auf Bezirksebene umgesetzt werden, da sonst die Distanzen zu groß werden. Die Anzahl der Menschen mit Down-Syndrom, die eine Anstellung finden, ist in der Ukraine insgesamt leider noch nicht hoch. Doch machen die Erfahrungen der letzten fünf Jahre Mut.

Ihre NGO ist auf die gesamte Ukraine ausgerichtet. Wie viele Regionen sind das?
Tetjana Pavljuk: Als allukrainische Organisation stehen wir aktuell im Kontakt mit 28 NGOs, die in 16 Gebieten (Oblaste) der Ukraine tätig sind. Sie bieten regional Hilfe für Kinder mit Down-Syndrom und deren Familien an. Insgesamt gibt es in der Ukraine 24 Regionen, dazu zählen auch die durch den Krieg besonders stark betroffenen Donbass-Gebiete Luhansk und Donezk, die seit acht Jahren in zwei Teile gespalten sind.

Welche Unterstützung bietet der ukrainische Staat für Kinder mit Down-Syndrom? 
Ivanna Vikhtynska: Der Staat unterstützt Familien mit Kindern mit Down-Syndrom mit kleineren Sozialhilfe-Beträgen. Das sind durchschnittlich Summen von umgerechnet rund 60 Euro monatlich. Falls das Kind einen höheren Invaliditätsgrad aufweist und intensivere medizinische Betreuung benötigt, sind es etwa 130 Euro bzw. ca. 5 000 Hrywnja monatlich. Doch ob diese minimale Hilfe bei fortdauerndem Krieg aufrechterhalten werden kann, ist ungewiss. Ebenso wichtig wie finanzielle Beihilfen ist in unseren Augen die Behindertenpolitik des Staates. Und da beobachten wir besonders in den letzten fünf Jahren ein starkes Bemühen, die früheren Behinderten-Internate durch familienbasierte Modelle abzulösen. Doch die Praxis zeigt, dass dafür zunächst vermehrt alternative Einrichtungen aufgebaut werden müssen. Wenn die Beamten lediglich ein Häkchen machen, um zu zeigen, dass wir uns ein Stück näher in Richtung zivilisierte Welt bewegt haben, genügt das nicht. Die Veränderungen müssen an der Basis durch konkrete Angebote für die betroffenen Familien erfolgen – und das ist ein langwieriger Prozess.
Auch nach dem Beginn der großangelegten russischen Invasion am 24. Februar 2022 blieb dieses staatliche Ziel zwar bestehen, doch haben sich die Schwierigkeiten seither vervielfacht. Gemäß offiziellen Zahlen gibt es mittlerweile schon über 2 000 Kinder, die ihre Eltern durch den Krieg verloren haben. Auch sind die Bemühungen zur Inklusion beeinträchtigter Kinder durch die Ereignisse des Kriegs gestoppt worden. Die Inklusion wird zukünftig noch viele Anstrengungen erfordern. Es müssen schulische Heilpädagog:innen ausgebildet und den Klassenlehrer:innen an die Seite gestellt werden. Während des Prozesses der Berufswahl und -ausbildung von beeinträchtigten Jugendlichen braucht es ebenfalls mehr Unterstützung von Seiten des Staates. Aus unserer Sicht braucht es in der Ukraine hinsichtlich der Inklusion mehr Wahlmöglichkeiten, da die einzelnen Kinder, aber auch ihre Familien sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen.

Wie können Sie unter den Bedingungen des Kriegs die Familien unterstützen?
Tetjana Pavljuk: Die schwierige Umstellung von physischen Beratungen zu Online-Gesprächen und der Produktion von Videos während der Covid-Zeit hat sich im Nachhinein als Glücksfall erwiesen. Gegenwärtig können wir eigentlich nur dank Online-Präsenz überleben. Wir betreuen ja nicht nur Familien in verschiedenen ukrainischen Regionen, sondern auch Familien, die wegen des Kriegs ins Ausland geflohen sind. Nach dem ersten Schock nach Ausbruch des Angriffskriegs und den Fluchtwellen haben wir zu einer Art „Normalität“ zurückgefunden, mit der wir umgehen können. Wenn sich unsere Spezialisten wöchentlich online zu Besprechungen treffen, starten wir gewöhnlich mit der Einleitung: „Habt ihr Licht?“ – „Ja! / Nein!“ Dabei ist unser Kyjiwer Team nur noch zum Teil in Kyjiw. Einzelne Mitarbeitende schalten sich beispielsweise aus Deutschland oder der Slowakei zu, wohin sie allein bzw. ihre Familien geflohen sind. Der Krieg hat auch zur Folge, dass wir mit Hilfe freiwilliger Helfer humanitäre Güter zu Familien mit einem Down-Syndrom-Kind bringen. Das Bankensystem funktioniert zum Glück mehrheitlich im ganzen Land. So können wir bedürftige Familien auch in entlegenen Regionen unterstützen, beispielsweise mit Medikamenten, die dort nicht mehr vorhanden sind, oder mit finanzieller Hilfe.

Mit welchen konkreten Schwierigkeiten hat Ihre NGO angesichts des Kriegs zu kämpfen?
Tetjana Pavljuk: Die Schwierigkeiten während des Krieges ist der Krieg selbst. Das ist eine komplizierte Frage, alles beginnt damit, dass wir nicht wissen, wohin eine Bombe fällt, und wer wie lange ohne Elektrizität oder Internet sein wird. Es ist jeweils so, dass montags verstärkter Beschuss auf das ganze Gebiet der Ukraine erfolgt. Eine Kollegin kann bereits seit drei Tagen einen Bericht nicht abliefern, weil sie keine Elektrizität hat. Der emotionale und psychische Zustand vieler Kolleg:innen ist sehr besorgniserregend. Die Sicherheit des Teams ist eine meiner Prioritäten. Die Hauptschwierigkeit dabei ist die Ungewissheit. Gleichzeitig besteht die Aufgabe, das Team zusammenzuhalten und die Professionalität beim Erbringen von sozialen Diensten gegenüber den Familien mit Kindern mit Down-Syndrom weiter hochzuhalten. In den letzten acht Kriegsmonaten konnten wir alle Arbeitsfunktionen aufrechterhalten, aber wir suchen fortwährend nach Finanzierung unseres Personals.

Welche Unterstützung wird momentan besonders benötigt?
Tetjana Pavljuk: Am meisten wird finanzielle Unterstützung für Familien benötigt, ebenso individuelle Hilfe zur Deckung dringender Bedürfnisse, beispielsweise medizinische Untersuchungen, Brillen und Medikamente. Um die dafür nötigen Informationen zu sammeln, wurde ein Chatbot eingerichtet, mit dessen Hilfe wir die Bedürfnisse erfassen. Für Flüchtlingsfamilien mit Kindern mit Down-Syndrom, die sich an uns wenden, kaufen wir alles, worum sie bitten. Der letzte Einkauf betraf Decken, Kissen und kleinere Haushaltsgeräte. Am 14. Juli kam in Vinnytsja ein Mädchen mit Down-Syndrom durch Raketenbeschuss um, die Mutter blieb am Leben. Für die Familie haben wir eine öffentliche Spendensammlung durchgeführt, die gesamte Summe wurde der Familie übergeben.

Ist es für Ihre Organisation derzeit überhaupt möglich neue Projekte umzusetzen?
Tetjana Pavljuk: Neue Projekte jetzt während des Kriegs zu beginnen, ist tatsächlich alles andere als einfach. Doch erwarten die Gesellschaft und unsere Partner, dass wir dies tun. Zu Recht. Das Wichtigste aber ist, unsere Basisangebote zu bewahren. Denn das Leben geht trotz der schrecklichen Ereignisse weiter. Während der ersten drei Monate des Kriegs wurden in der Ukraine sieben Kinder mit Down-Syndrom geboren, deren Eltern sich an unsere Organisation wandten. Das bedeutet, wir müssen unser professionelles Angebot aufrechterhalten, psychologische Unterstützung bieten und Vermittler in verschiedensten Zusammenhängen sein. Dieser Krieg verursacht noch mehr Invalide, mehr traumatisierte Seelen und Schicksale als zuvor. Unsere Rolle als Verbindung zu den vielen lokalen Organisationen ist eminent wichtig. Dies betrifft insbesondere die Zusammenarbeit mit medizinischen Einrichtungen, die gerade schwerste Zeiten erleben, aber für Kinder mit Down-Syndrom überlebenswichtig sind. Wir werden gebraucht! Unsere Informations- und Unterstützungsplattform (http://downsyndrome.org.ua) zu bewahren und weiterzuentwickeln, ist daher eine Herausforderung, der wir uns stellen wollen – gerade jetzt. 

Sie können die Arbeit von „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ unterstützen.

pdfRGOW 11/2022, S. 27–29

Bild: UDSO