„Kinder der Hoffnung“: Eindrücke aus Kyjiw und von der Front
Regula Spalinger im Gespräch mit Anna Matjuschkina
Seit 2015 unterstützt die NGO „Kinder der Hoffnung“ ukrainische Familien, die vor dem Krieg fliehen mussten. In Kyjiw und zwei naheliegenden Dörfern organisiert die NGO gemeinsame Anlässe für die Familien und Freizeitprogramme für die Kinder. Zudem bietet sie psychologische Begleitung für die kriegstraumatisierten Familien an. Eine der Kirchen, in denen die NGO Anlässe in Kyjiw organisiert, wurde bei einem russischen Luftangriff Ende März beschädigt. Die Schäden konnten mittlerweile wieder behoben werden.
Wie geht es den Familien, mit denen Sie zusammenarbeiten, im dritten Jahr seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine?
Anna Matjuschkina: Wir halten alle durch, es gibt für uns keine andere Wahl. Gleichzeitig wachen wir jeden Morgen auf und freuen uns sehr, dass wir am Leben sind. Wir erwachen und sind dankbar, dass wir mit den Kindern und ihren Eltern zusammenkommen können, dass die Kinder die Schule besuchen und sich entfalten können. Unter den von uns unterstützten Familien gibt es solche, die Lebensmittel, Hygieneartikel oder weitere Produkte des täglichen Bedarfs benötigen. Solchen bedürftigen Familien hilft unsere NGO direkt mit humanitären Gütern oder mit Basisbeiträgen, damit eine Familie nach ihrer Flucht vom ursprünglichen, meist zerstörten Wohnort nach Kyjiw die Wohnungsmiete während der ersten Monate bezahlen kann. Solange, bis eine geeignete Arbeitsstelle gefunden ist. Überbrückungshilfen dieser Art waren insbesondere im ersten Jahr nach Ausbruch des Angriffskriegs nötig. Die geflüchteten Familien kamen nur mit dem Allernötigsten an. Dabei sind die Mieten in Kyjiw im Vergleich zu anderen ukrainischen Städten hoch. Mit den betreuten Familien stehen wir in engem Kontakt, so dass wir über regelmäßige direkte Gespräche feststellen können, welche Familien längerfristige materielle Hilfe benötigen.
In der Nacht auf den 21. März 2024 gab es schwere russische Raketenangriffe auf Kyjiw. Was für Folgen hatten die Zerstörungen für Ihre NGO?
Der massive Raketenangriff vom 21. März um fünf Uhr morgens auf das Stadtzentrum von Kyjiw schockierte uns zutiefst und löste ein Echo der Solidarität in der ganzen Ukraine aus. Die Kirche des hl. Nikolaj, wo wir für die Kinder regelmäßig kreative Kurse durchführen, wurde von den Trümmerteilen einer Rakete getroffen. Dabei zersplitterten alle Fensterscheiben, auch die Türen wurden stark beschädigt. Die größten Schäden erlitt der angrenzende Glockenturm mit dem Altarraum und den Ikonen. Ein kleines Café in der Nähe wurde ganz zerstört, ein Rumpfteil der Rakete riss einen riesigen Krater in den Asphalt der Straßenkreuzung. In mehreren Nachbarhäusern brach Feuer aus, es gab Verletzte, doch wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben. Die ukrainische Luftabwehr konnte die Rakete noch in der Luft abschießen, sonst wären die Zerstörungen hier im Wohn- und Geschäftsviertel auf der Tatarka, einem der sieben Hügel der Stadt Kyjiw, noch viel schlimmer gewesen. Vom Sirenenlärm wurde Vassilij, der Gehilfe unseres Priesters, geweckt. Er übernachtet jeweils in einem der unteren Räume der Kirche. Da der Angriff in den frühen Morgenstunden geschah, noch vor Ende der nächtlichen Ausgangssperre um sechs Uhr, befand sich zum Glück niemand sonst in der Kirche. Unser Kirchenvorsteher, Priester Taras Melnik, initiierte eine Spendensammlung in Kyjiw und darüber hinaus. Wegen der starken Schäden an der Kuppel mussten speziell gesicherte Handwerker den Hauptteil der Renovation durchführen.
Konnten Sie die Arbeit mit den Kindern in der Kirche des hl. Nikolaj unterdessen wieder aufnehmen?
Nach dem ersten Aufräumen brachten wir vorübergehend Fensterfolien an den zerstörten Scheiben an und reparierten die Türen notdürftig. So empfingen wir bereits eine Woche nach dem Vorfall eine erste Kindergruppe mit ihren Eltern. Die Sicherheitsbestimmungen während des Kriegs schreiben vor, dass Kinder nur in Begleitung mindestens eines Elternteils unterwegs sein dürfen. Deshalb sind seit Februar 2022 die Eltern immer dabei. Für sie alle war es sehr schmerzlich, die Kirche und die umliegenden Häuser so zu sehen. Wir haben jedoch das Glück, dass es im Souterrain der Kirche drei zusätzliche Räume gibt. Im größten führen wir jeweils die Anlässe für die Kinder durch. Dieser Teil der Kirche dient gleichzeitig als Schutzraum. Das gibt allen zusätzliche Sicherheit, da wir bei Luftalarm nicht rasch in ein anderes Gebäude oder ins Untergeschoss wechseln müssen.
Am 14. April konnten wir wieder einen kreativen Kurs für die Kinder durchführen. In Vorbereitung auf Ostern war es eine „Meisterklasse“ im Bemalen von Ostereiern in der jahrhundertealten ukrainischen Tradition der „Pysanky“. Der Name stammt vom Wort „pysaty“ ab, was schreiben bedeutet. Für die Kinder hat diese Art der Beschäftigung einen kunsttherapeutischen Charakter, die gleichzeitig Geduld erfordert und ihre Kreativität und das Fingerspitzengefühl fördert. Zuerst zeichnet man mit einem Bleistift die Muster auf das Ei. Danach fahren die Kinder mit der Kistka, einem mit flüssigem Bienenwachs gefüllten Instrument einem Teil der Muster nach. Es folgt eine erste helle Farbschicht, darauf nächste Elemente – und so Schicht um Schicht. Zum Schluss wird das Wachs vorsichtig mit Hilfe einer brennenden Kerze und einem Tuch abgewischt. Jede Region der Ukraine hat ihre eigenen Muster, was diese Tradition noch einmal vielfältiger macht. Das „Beschreiben“ der Eier ist ein anspruchsvoller Prozess, der viel Übung braucht. Gleichzeitig ist es eine sehr soziale Beschäftigung, die Mädchen und Jungen sprechen miteinander, vertiefen Freundschaften. Für die Kinder sind ihre „Pysanky“ so wertvoll, dass sie sie ein ganzes Leben lang aufbewahren.
Anfang Mai war ein Priester, der mit Ihnen die Kinder hier in Kyjiw betreut, als Militärgeistlicher an der Front. Welche Eindrücke hat er von dort mitgebracht?
Vater Andrej hatte die Aufgabe, als Militärgeistlicher zu Beginn der Karwoche an die östliche Frontlinie zu fahren. Er besuchte dort verschiedene Brigaden, um ihnen etwas vom österlichen Geist zu bringen und die für sie mitgegebenen Ostergaben zu segnen. Den Kämpfern, die dies wünschten, nahm er die Beichte ab und spendete ihnen die Kommunion. An jenen Frontabschnitten, wo Vater Andrej war, kommen auch sehr viele Sanitäter ums Leben. Sie evakuieren Verwundete und sind selbst im Gefechtsgebiet größten Gefahren ausgesetzt. Für alle dort ist die Todesgefahr immer präsent, auch für Vater Andrej als jungen Familienvater. Doch als Militärkaplan gehört der Besuch der Truppen im Kampfgebiet zu seinen Pflichten. Als Vater Andrej den Sanitäterinnen (auch einzelne Frauen dienen im Frontabschnitt) ihre Paska (Osterbrote) überreichte, weinten viele, denn noch im vergangenen Jahr hatten sie selbst für ihre Familie zuhause das Osterbrot gebacken. Die Kämpfer benötigen moralische Unterstützung durch den Geistlichen, das Beichtgespräch. Diese Hilfe ist sehr kostbar. Mit ihren Familien können die Soldaten telefonieren, wenn sie sich in einem der zurückversetzten Basislager befinden. Manche Kinder, die wir hier im Kyjiwer Gebiet betreuen, haben auch Väter an der Front. Wenn Vater Andrej die Truppen besucht, nimmt er immer Briefe und Zeichnungen verschiedener Kinder für die Soldaten mit.
Welche psychologische Unterstützung gibt es für die Familien und Kinder, die Ihre NGO betreut?
Für alle von uns betreuten Kinder und ihre Eltern sind unsere Treffen im Moment die größte Unterstützung. Die von uns organisierten therapeutischen Anlässe, insbesondere die künstlerischen und handwerklichen, lenken die Kinder vom Krieg ab. Sie helfen ihnen zur Ruhe zu kommen. Neben den Explosionen, die sie im Alltag hören, oder den Zerstörungen, die sie sehen, versetzt sie der wiederholte Luftalarm immer wieder in einen Stresszustand. Während eines Schultags kann es vorkommen, dass nicht nur einmal, sondern zwei-dreimal oder manchmal gar bis fünfmal die Sirenen aufheulen, und die ganze Klasse jedes Mal neu den Schutzraum aufsuchen muss. Dabei ist es so, dass man nicht weiß, ob es zu einem Raketenbeschuss kommt. Der Sirenenlärm muss von der ukrainischen Luftverteidigung zur Vorsicht ausgelöst werden, sobald eine feindliche MiG aufsteigt oder ein anderer Gefechtskörper auf die Ukraine abgeschossen wird. Sonst wäre die Reaktionszeit zu kurz. So erleben auch die Kinder, die hier im Gebiet Kyjiw wohnen, ein ständiges Wechselbad an Ungewissheit und Angst. Daher besprechen wir gegenwärtig mit der Leitung unserer NGO, nach welchen Kriterien wir künftig Psychologen zur Zusammenarbeit mit dem Team von „Kinder der Hoffnung“ auswählen wollen. Im Moment empfehlen wir Familien, die psychologische Unterstützung benötigen, uns gut bekannte Fachpersonen. In Zukunft werden wir vermehrt spezialisierte Psychologinnen benötigen, die über eine zusätzliche Ausbildung in der Behandlung von traumatischen Kriegserlebnissen verfügen. Wir selbst verfügen nicht über diese Fachkenntnisse. Doch stehen wir mit mehreren solchen Fachpersonen im Kontakt und erarbeiten nun mit ihnen ein Konzept, welche Abläufe sinnvoll sind: Ob beispielsweise nur Einzel- und Familientherapien angeboten werden, oder ob für Menschen mit ähnlichem Kriegsschicksal auch therapeutische Kleingruppen geeignet sind.
Sie können die Arbeit von „Kinder der Hoffnung“ mit einer Spende auf das Konto des Forums RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 5178 0) mit dem Vermerk „Kinder der Hoffnung“ unterstützen.
Bild: Die Kinder beim Bemalen der Ostereier (Foto: Kinder der Hoffnung).