Zum Hauptinhalt springen

Woher dieser Hass? Russlands Krieg um die „natürliche Ordnung“

RGOW 10/2022
Regina Elsner

Die Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine durch Patriarch Kirill als „Verteidigung gegen Gay-Pride-Paraden“ weist eine lange ideologische Vorgeschichte auf. In den 1990er Jahren entstanden zwar kurzzeitig Freiräume für LGBTIQ*-Themen, doch war die Kirchenleitung bei der innenpolitischen konservativen Wende in Russland zusammen mit der Staatsführung eine maßgebliche Akteurin. Auch die Istanbul-Konvention bekämpft die Russische Orthodoxe Kirche.

Russland ist seit vielen Jahren bekannt als einer der Hauptakteure globaler konservativer Netzwerke. Nicht zuletzt die Forschungen des „Postsecular Conflicts“-Projekts[1] unter der Leitung von Kristina Stoeckl an der Universität Innsbruck haben Ideologie und Strukturen dieser Netzwerke bekannt gemacht. Das Thema, welches verschiedene Organisationen und Institutionen weltweit verbindet, ist der Kampf um die sog. „natürliche Ordnung“, also die Vorstellung von gesellschaftlichen Strukturen, die angeblich durch die Natur des Menschen begründet seien. In den meisten Fällen wird diese Natur statisch gedacht und religiös begründet. Der Begriff „Gender“ steht in dieser Wahrnehmung für alles, was die vermeintlich „natürliche Ordnung“ bedroht.

Russland hat seine führende Rolle in diesen Netzwerken vor allem der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zu verdanken, die eben jene politisch-ideologische Agenda religiös auflädt und durch ihre ökumenischen Beziehungen international einbindet. Diese Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zugespitzt und eskalierte dramatisch mit der Legitimierung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine als „Verteidigung gegen Gay-Pride-Paraden“ Anfang März 2022. Der Hass gegen alles, was sich von der angeblichen „natürlichen Ordnung“ unterscheidet, sitzt tief und ist politisch gewollt.

Ein kurzer Aufbruch bei Gender-Themen
In der allgemeinen Aufbruchsstimmung am Ende der Sowjetunion erlebten auch Gender-Themen – die Stärkung von Frauenrechten in allen Lebensbereichen und die Sichtbarkeit von nicht-heteronormer sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität – eine wachsende Akzeptanz. Bereits in den 1980er Jahren hatten sich Gruppierungen für Frauenrechte gebildet, bemerkenswerter Weise auch mit der Unterstützung von ausdrücklich kirchlichen, orthodoxen Frauen. Die Forderungen der ersten sowjetischen feministischen Bewegungen stehen noch im Kontext des uniformierenden Sowjetrealismus: Die Frauen erwarteten eine Erleichterung der körperlich schweren Arbeit für Frauen, eine humanere Behandlung von Frauen in Geburtsabteilungen und Abtreibungskliniken, und sie richteten sich gegen eine Unifizierung weiblicher Lebenserfahrung. Diese Art des Feminismus stand und steht in großem Einklang mit dem orthodoxen Frauenbild.

1980 hatte die Sowjetunion die UN-Konvention zur Bekämpfung jeglicher Diskriminierung gegen Frauen unterzeichnet. Die Regierung verpflichtete sich zu einer Strategie zur Verbesserung der Lage von Frauen und Familie sowie zum Schutz von Mutterschaft und Kindheit. Die eigens dafür eingesetzte Arbeitsgruppe bestand aus Mitarbeiterinnen des Instituts zur Erforschung sozial-ökonomischer Probleme der Bevölkerung und weiteren interessierten Wissenschaftlerinnen der Akademie der Wissenschaften. Diese Frauen wurden schließlich zur Initiativgruppe des ersten Zentrums für Gender-Forschung in Russland, das 1990 in Moskau gegründet und in den folgenden Jahren zum Mittelpunkt der Vernetzung feministischer Initiativen und Forschergruppen in Russland und weiteren Nachfolgestaaten der Sowjetunion wurde. Außerdem entstanden Einrichtungen für Gender-Forschung an vielen Universitäten im ganzen Land.

Viele dieser Einrichtungen wurden durch internationale Organisationen finanziell und auch inhaltlich unterstützt. Die sowjetische Erfahrung unterschied sich allerdings durch die sowjetische Idee der Gleichheit von Frau und Mann besonders im Arbeitsrecht, aber auch im Zugang zu reproduktiver Medizin bzw. Abtreibungen, deutlich von den Themen des westeuropäischen oder nordamerikanischen Feminismus. Das führte dazu, dass sich die kritischen Gender-Studien als Analyse für gesellschaftliche Ungerechtigkeit nicht tief verankern konnten und durch die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Russland am Ende der 1990er Jahre schließlich abgebrochen wurden.

Ähnlich verhält es sich mit der Offenheit für nicht-heteronorme sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. In den 1990er Jahren fand die LGBTIQ*-Subkultur zu größerer Sichtbarkeit, in den größeren Städten gab es Cafés und Clubs, eine eigene Musikszene und Zeitschriften entwickelten sich, vereinzelt wurden auch Demonstrationen für gleiche Rechte durchgeführt. Die Vorurteile gegen Schwule und Lesben blieben weit verbreitet und verursachten besonders im familiären Bereich viel Leid, dennoch fehlten groß angelegte öffentliche Gegenbewegungen. In der Arbeit von Menschenrechtsgruppen und zivilgesellschaftlichen Initiativen wurden LGBTIQ*-Themen eher unauffällig integriert, oft auch mit der Förderung ausländischer Organisationen.

Zum Ende der 1990er Jahre wurden diese Entwicklungen von der Konsolidierung des russischen Identitätsdiskurses eingeholt. Die ROK hatte nach einigen Jahren der Neuorientierung nach dem Ende der staatlichen Unterdrückung eine Nähe zum Staat gefunden, die der Herausbildung einer neuen post-sowjetischen Identität diente.[2] Zentrales Schlagwort war „Traditionalität“: die für Russland traditionellen Religionsgemeinschaften und ein traditionelles Wertesystem sollten die Gesellschaft vereinen und der allgemeinen Verunsicherung ein klares Gerüst der eigenen Identität entgegenstellen. Dieser Bezug auf Traditionen führte einerseits zur Stigmatisierung aller Konzepte, die als fremd und „ausländisch“ wahrgenommen und damit zu fundamentalen Bedrohungsszenarien wurden. Andererseits kehrten ausgeprägte Stereotype über Männlichkeit und Weiblichkeit in alle gesellschaftlichen und politischen Diskurse zurück und wurden mit der „Traditionalität“ gegen jede Kritik immunisiert. Der Phase der Weitung individueller Rechte und Freiheiten in den 1990er Jahren folgte eine schrittweise Verengung. Ihren Höhepunkt erreichte diese Einengung mit der sog. konservativen Wende der Politik Vladimir Putins ab 2011.

Etappen der Verengung
Man kann den Prozess des wachsenden Anti-Genderismus an den folgenden drei Themen beobachten:

Russland verfügt nach wie vor über eine der liberalsten Regelungen zum medizinischen Schwangerschaftsabbruch in Europa und sticht damit auffällig aus dem allgemeinen Trend der konservativen Einschränkungen von Frauenrechten heraus. Dieser Umstand verdankt sich vor allem der Tatsache, dass Generationen von Frauen Abtreibungen als einzigen barriere-armen und relativ sicheren Weg der Familienplanung und auch des Rechts über den eigenen Körper erfahren haben. Für Männer ist es gleichzeitig der einfachste Weg, die Konsequenzen des eigenen Sexualverhaltens rechtlich und finanziell gering zu halten – soziale Projekte für Frauen in Konfliktschwangerschaften oder alleinerziehende Mütter berichten mehrheitlich, dass die Männer sie bedroht hätten, wenn sie keine Abtreibung vornehmen würden.

Eine gesetzliche Einschränkung in diesem Bereich müsste also mit großem Widerstand aus der Gesellschaft und auch aus dem medizinischen Bereich rechnen. Die ROK hat sich seit dem Ende der Sowjetunion dem Kampf gegen Abtreibung gewidmet. Sie wurde dabei besonders von evangelikalen und katholischen Akteuren aus dem Ausland, der sog. Pro-Life-Bewegung, unterstützt. Die Pro-Life-Bewegung markiert den Beginn der Allianz von konservativen Akteuren im Westen und in Russland, die durch den World Congress of Families institutionalisiert wurde und weitere Themen um die „natürliche Ordnung“ wie den Anti-Genderismus, Homeschooling und ein traditionelles Frauenbild aufnahm.[3]

Mit den Jahren konnte die Bewegung kleine Erfolge in der russischen Gesetzgebung verzeichnen, so wurden 2011 Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche mit Ausnahme medizinischer Notfälle verboten, es wurde eine Entscheidungszeit von 2–7 Tagen eingeführt, und Ärzte können eine Abtreibung aus Gewissensgründen ablehnen. Die ROK kämpft gemeinsam mit konservativen Politiker:innen außerdem dafür, Schwangerschaftsabbrüche aus dem Leistungskatalog der Krankenversicherungen zu streichen, bisher jedoch ohne Erfolg.

Ein zweites Thema beschäftigte die ROK ab den frühen 2000er Jahren: die Jugendgerichtsbarkeit. Während die ersten Schritte der Einführung spezieller rechtlicher Normen für den Schutz von „Minderjährigen in schwierigen Lebenssituationen“ ab den späten 1990er Jahren noch problemlos erfolgten, formierte sich ab 2008 deutlicher Widerstand, der von der ROK angeführt wurde. Grund waren neue Regelungen, die einen Eingriff in die Familie bei nachgewiesener Gewalt oder Vernachlässigung des Kindes ermöglichten, sowie die Einführung einer Ombudsperson für Kinderrechte. 2011 richtete das Patriarchat eine eigene „Kommission für Familie und den Schutz von Kindern und Mutterschaft“[4] ein, 2013 verabschiedete das Bischofskonzil ein Grundlagendokument über die Reform des Familienrechts und die Jugendjustiz.[5] Darin wird betont, dass Kinderrechte nicht „künstlich über die Rechte der Eltern“ gestellt werden dürfen, da dies den biblischen Vorgaben widerspreche. Darüber hinaus stünden viele Prinzipien der Jugendjustiz im Widerspruch zur nationalen Kultur und Tradition und dürften deswegen in Russland und anderen Ländern des kanonischen Territoriums der ROK nicht angewendet werden. Seit 2011 wurden keine weiteren Gesetze zur Sicherung von Kinderrechten verabschiedet, es fehlt weiterhin eine eigene Jugendgerichtsbarkeit.

Das Thema Homosexualität geriet ebenfalls Anfang der 2000er Jahre in den Fokus der ROK und der politischen Eliten. In den 1990er Jahren waren homosexuelle Beziehungen zwischen Volljährigen entkriminalisiert worden, allerdings blieb eine entsprechende Anti-Diskriminierungsstrategie aus. Als mit der Präsidentschaft Vladimir Putins die konservative Identitätspolitik und damit der politische Einfluss der ROK stärker wurden, geriet Homosexualität in den Fokus der Familien- und Demografiepolitik.

Gleichzeitig wurde die Bewegung für die Rechte von LGBTIQ*-Personen aktiver, Demonstrationen und Kulturveranstaltungen sowie die Gründung von NGOs erhöhten ihre öffentliche Sichtbarkeit. Diese Arbeit wurde meistens von ausländischen Menschenrechtsorganisationen finanziert. In den Augen der ROK und anderer konservativer Akteure bedeutete dies, dass die Rechte von LGBTIQ*-Personen ausländische Interessen seien, die der russischen Tradition und Kultur fremd wären. Sie stellten eine Gefahr für die traditionelle Familie dar und seien darüber hinaus ein Angriff auf die russische Demografie und Souveränität. Aus religiöser Sicht sind alle nicht-heteronormen Beziehungen und Geschlechtsidentitäten eine Pervertierung der gottgewollten Natur des Menschen und können höchstens als Sünde des Menschen barmherzig wahrgenommen, niemals jedoch akzeptiert oder gar begrüßt werden.

Mit diesen Begründungen wurde 2006 zum ersten Mal ein regionales Verbot der sog. „Propaganda von Homosexualismus“ unter Minderjährigen erlassen, 2013 unterzeichnete Putin ein entsprechendes föderales Gesetz. Gleichzeitig wurden Adoptionen von Kindern aus russischen Kinderheimen in Länder, die eine gleichgeschlechtliche Ehe anerkannten, verboten. Diese Gesetze führten zunächst zu einem massiven Rückgang jeglicher Aufklärungsprojekte und Publikationen zur Gender-Thematik. Sie erhöhten außerdem das Gewaltpotential gegen nicht-heteronorm wirkende Personen und Verhaltensweisen sowie Menschenrechtsorganisationen. Gewaltsame Übergriffe, Entlassungen, Erpressung, Wohnungskündigungen und gezielte Verfolgung wurden strafrechtlich nicht geahndet. Es entstanden Bürgerwehr-Gruppierungen wie 2013 die Sorok-Sorokov Bewegung,[6] die mit dem Segen der ROK gewaltsam gegen die öffentliche Sichtbarkeit von LGBTIQ* vorgingen. Dies sorgte für eine Fluchtwelle, u. a. von gleichgeschlechtlichen Familien mit Kindern. Im Zuge der Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Akteure ab 2013 gehörten die Organisationen für LGBTIQ*-Rechte zu den ersten, die als „ausländische Agenten“ stigmatisiert und in ihrer Arbeit massiv eingeschränkt wurden.

Die extreme Aggression besonders gegen schwule Männer ist nur zu verstehen, wenn man den Kontext der sowjetischen Gefängniskultur einbezieht. Diese ist bis heute von einem strengen hierarchischen Gewalt-System geprägt, in dem (aufgezwungene) passive homosexuelle Handlungen eine Person in die absolut niedrigste Kaste zwingen. Männliche Homosexualität wird so zum Inbegriff des gesellschaftlichen Abschaums, und diese Vorstellung ist angesichts der hohen Kriminalitätsrate bzw. einem durch und durch korrupten Rechtssystem in allen Schichten und Regionen verbreitet. Die Spirale aus Scham und Gewalt setzt sich dabei in Familien und allen gesellschaftlichen Sphären fort, und wird durch die religiöse Dimension von Sünde und „natürlicher Ordnung“ zusätzlich verschärft.[7] Europäische Normen und Strategien, die unter dem Schlagwort „Gender“ zum Ende der 1990er Jahre auch in Russland diskutiert wurden, funktionierten unter diesen Voraussetzungen und ohne eine umfassende Anti-Diskriminierungs- und Aufklärungspolitik als ein Schreckensbild für viele Menschen und wurden so ein effektives Instrument konservativer Politiken.

Kirchliche Kritik am Begriff „häuslicher Gewalt“
2011 verabschiedete der Europarat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, gewöhnlich als Istanbul-Konvention bezeichnet. Russland hat die Konvention bis zu seinem Ausschluss aus dem Europarat 2022 weder unterzeichnet noch ratifiziert, allerdings löste die Verabschiedung auch in Russland eine öffentliche Debatte über den mangelnden Schutz vor häuslicher Gewalt aus.[8] Obwohl das Problem häuslicher Gewalt und vor allem von Gewalt gegen Frauen in Russland weithin bekannt ist, führte vor allem der Begriff „Gender“ in der Konvention zu massiver Kritik unter religiösen und konservativen Akteuren und zu einer Ablehnung der Konvention. Der Begriff sei gleichbedeutend mit einer Auflösung der natürlichen biologischen Unterscheidbarkeit und Bezogenheit von Mann und Frau sowie mit einer homosexuellen Indoktrination von Minderjährigen. Der Verpflichtungscharakter der Konvention wurde als kolonialer Angriff auf die Souveränität des russischen Zivilisationsraumes dargestellt, gleichzeitig musste sich Russland zunehmend vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für die unterlassene Hilfeleistung bei häuslicher Gewalt verantworten.

Anders als in vielen Ländern, die der Konvention kritisch gegenüberstehen, argumentiert die ROK mit einer grundsätzlichen Kritik am Begriff „häusliche Gewalt“. Dieser Begriff würde den Wert der traditionellen Familie diffamieren. Auch eigene, russische Initiativen für gesetzliche Regelungen zum Schutz vor häuslicher Gewalt scheiterten bisher an dieser kirchlichen Argumentation: „Insbesondere ist es offensichtlich, dass dieses Konzept (der häuslichen Gewalt, R. E.) untrennbar mit den Ideen des radikalen Feminismus verbunden ist, in dem Männer stets als potenzielle ‚Aggressoren‘ gegen Frauen und Erwachsene als Quelle der Bedrohung für Kinder dargestellt werden, vor allem in Ehe und Familie, die als Institutionen der ‚Unterdrückung‘ und ‚Gewalt‘ dargestellt werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass solche Auffassungen unangemessen, gefährlich für die Gesellschaft und unvereinbar mit den traditionellen moralischen und rechtlichen Werten sind.“[9]

Auch wenn man „tatsächliche Verbrechen“ verhindern muss, sei die Ausgestaltung der innerfamiliären Beziehungen allein der Familie in Übereinstimmung mit den Traditionen der eigenen Kultur zu überlassen, so die Erklärung der ROK. Ein Rechtsschutz der von Gewalt betroffenen Person liefe Gefahr, Familien zu zerbrechen ohne die Möglichkeiten zu Versöhnung ausreichend auszunutzen.

Die Debatte führte 2017 zu einer Entkriminalisierung häuslicher Gewalt, die seitdem nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet wird.[10] Ein neuer Gesetzentwurf, der häusliche Gewalt zunächst definieren und darauf aufbauend Schutz- und Präventions-Maßnahmen festlegen soll, ist seit 2019 in der Diskussion. Auch die rasante Zunahme häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie führte zu keinen entscheidenden Veränderungen in der Argumentation der Gegner eines solchen Gesetzes.

Anti-Genderismus als patriarchaler Machterhalt
Ein zentrales Argument in der Debatte um die skizzierten Themen sind die angeblich „traditionellen Werte“, für deren Schutz und Verbreitung die ROK eine besondere Verantwortung beansprucht. Diese garantieren gemeinsam mit der Idee eines spezifischen russischen zivilisatorischen Raumes die Verankerung der ROK in der russischen Innen- und Außenpolitik. Über die religiöse Begründung bestimmter Werte sichert sich der autoritäre Staat eine überpolitische Legitimität, die Kirche wiederum sichert sich einen unverzichtbaren Platz im Machtsystem. Die Ausformulierung dieser Werte blieb jedoch in all den Jahren schwammig, ähnlich wie die räumliche Beschreibung der „Russischen Welt“ – sie reichen von Menschenwürde und Gerechtigkeit bis hin zur heterosexuellen kinderreichen Familie, Opferbereitschaft und Patriotismus.

Erst die konkrete gesellschaftspolitische Debatte zeigt, dass diese Werte ausschließlich funktional dem Machterhalt der herrschenden Elite einschließlich der Kirchenführung dienen und darum flexibel angepasst werden. Die durchaus vorhandenen Werte des individuellen Lebens, seiner Rechte und Freiheiten werden etwa im ökumenischen Gespräch betont, um die eigene Position im theologischen Miteinander zu legitimieren und Kritik aus anderen Kirchen mit dem Verweis auf gemeinsame Konsenspapiere zu widerlegen. Allerdings fehlt eine grundlegende theologische Auseinandersetzung mit den Themen Sexualität und Geschlecht in der russischen Theologie vollständig. In den innenpolitischen Entscheidungen treten die individuellen Werte jedoch immer hinter die kollektiven Rechte der Familie, der Kirche oder des Vaterlandes zurück. Initiativen zum Schutz individueller Rechte von außen – durch internationale Gremien oder Organisationen – werden mit dem Verweis auf die Souveränität des zivilisatorischen Raumes als koloniale Einmischung zurückgewiesen, Anfragen von innen als ausländischer Einfluss diffamiert.

Der Gender-Diskurs illustriert diese Macht erhaltenden Mechanismen besonders eindringlich. Die Vorstellung einer „natürlichen Ordnung“ der Geschlechter wird als religiöse Wahrheit immunisiert gegen angeblich rein politische Interessen. Religion stehe außerhalb politischer Debatten, womit die Kirche jedoch ausblendet, wie mit diesen Vorstellungen konkrete Politik gemacht wird. Der Anspruch rechtlicher Normen wird mit dem Verweis auf die Religionsfreiheit abgewiesen. Die ROK spielt an dieser Stelle auch mit dem Vorwurf, Gender-Politiken seien „areligiös“ und damit in direkter Nähe zu einer neuen atheistischen Ideologie. Die von der ROK erlittene Verfolgung durch das kommunistische Regime wird hier als moralisches Kapital verwendet, welches der Anti-Gender-Haltung der Kirche zusätzliche Autorität verleiht. Der Vorwurf, Gender-Diskurse seien ein neuer Marxismus, findet sich u. a. auch in den Anti-Gender-Bewegungen in Polen, der Ukraine und dem Vatikan. In Russland jedoch überschneidet er sich mit dem Kult des Sieges über den Faschismus und generiert dadurch eine besonders hohe Gewalt- und Opferbereitschaft.

Vom ideologischen Kampf zum Krieg
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die ROK mit Unterstützung des Staates international im Kampf gegen Gender vernetzt und in konservativen Netzwerken als „wahrhaft christliche Nation“ eine große Autorität erreicht. Quer zu diesen internationalen Verbindungen des Anti-Genderismus steht jedoch die feste Überzeugung, Russland müsse den eigenen zivilisatorischen Raum vor den Angriffen durch die Gender-Ideologie schützen. An dieser Stelle geraten außen- und innenpolitische Agenden in einen Konflikt, dessen radikalste Auswirkungen seit Februar 2022 die Ukraine zu ertragen hat. Als Patriarch Kirill am 6. März 2022 davon sprach, dass dem Donbass „Gay-Pride-Paraden“ aufgezwungen werden sollten, und damit den brutalen Angriffskrieg Russlands und die exzessive Gewalt der russischen Armee gegen eben jene Bewohner des Donbass legitimierte, wurde die Widersprüchlichkeit der gesamten Argumentation um „traditionelle Werte“ offensichtlich: Die wahllose Zerstörung menschlichen Lebens wird mit der Verteidigung vor der angeblich lebensfeindlichen Gender-Ideologie begründet. In der Rhetorik eines Gotteskrieges verspricht der Patriarch den russischen Soldaten eine Vergebung aller Sünden, wenn sie bei diesem Verteidigungskampf zu Tode kommen.

Für Menschen, die nicht beobachtet haben, wie die ROK den Hass gegen „Gender“ als Inbegriff der Bedrohung der eigenen Identität in der russischen Gesellschaft unterstützt hat, sind sowohl die Verbrechen der russischen Armee in den ukrainischen Städten als auch das Schweigen der ROK dazu zutiefst unverständlich. Wenn man sich jedoch den Prozess der vergangenen 20 Jahre vor Augen führt, wird deutlich, dass der Übergang vom ideologischen Kampf zu einem realen Krieg fließend verlief. Zahlreiche westliche Kirchen und andere konservative Akteure haben sich aktiv an diesem ideologischen Kampf beteiligt, unter anderem durch ihre Lobbyarbeit gegen die Istanbul-Konvention und ökumenische Kooperationen zur „natürlichen Ordnung“. Eventuell ist der einzige Unterschied zu diesen westlichen Diskursen die autoritäre russische Staatsführung, die bereit ist, einen blutigen Krieg mit der Ideologie der „traditionellen Werte“ zu rechtfertigen.

Anmerkungen:
[1])    https://www.uibk.ac.at/projects/postsecular-conflicts/

[2])    Elsner, Regina: Gender und die traditionellen Familienwerte: Der Beitrag der Russischen Orthodoxen Kirche zur russischen Identitätskonstruktion. In: Behrensen, Maren et al. (Hg.): Gender–Nation–Religion. Ein internationaler Vergleich von Akteursstrategien und Diskursverflechtungen. Münster 2019, S. 125–145.

[3])    Stroop, Christopher: A Right-Wing International? Russian Social Conservatism, the World Congress of Families, and the Global Culture Wars in Historical Context. In: The Public Eye, Vol. Winter 2016, S. 4–10; 21–22.

[4])    https://pk-semya.ru/

[5])    http://www.patriarchia.ru/db/text/2774805.html

[6])    https://soroksorokov.ru/sorok-sorokov/

[7])    Vgl. Mikhailov, Konstantin: Die russische Orthodoxie zwischen maskulinem Ideal und Homophobie. In: RGOW 44, 8 (2016), S. 26–29.

[8])    Muravyeva, Marianna: Russia and the Istanbul Convention: Domestic Violence Legislation and Cultural Sovereignty. In: Osteuropa Recht 68, 1 (2022), S. 147–164.

[9])    https://pk-semya.ru/dokumenty-komissii/item/2136-poyasneniya-nasilie.html

[10])   Kosterina, Irina: https://www.boell.de/de/2017/02/08/russische-familienwerte-haeusliche-gewalt-wird-russland-bagatellisiert. Vgl. auch Vojkova, Natalija: Häusliche Gewalt in Russland – Verordnetes Schweigen. In: RGOW 48, 4 (2020), S. 24–27.

Regina Elsner, Dr. theol., Wis­senschaftliche Mitar­bei­terin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin.

Bild: Protest am 1. Mai 2019 in St. Petersburg: „Jede Stunde stirbt eine Frau in Russland wegen häuslicher Gewalt.“ (Foto: Shutterstock.com).

Drucken