In Bewegung. Die Kirchenlandschaft und der Krieg in der Ukraine
RGOW 08-09/2022
Alle ukrainischen Kirchen haben den russischen Angriffskrieg klar verurteilt und sich hinter den ukrainischen Staat gestellt. Alle großen Kirchen der östlichen Tradition stehen jedoch auch vor enormen Herausforderungen: Die Ukrainische Orthodoxe Kirche steht aufgrund ihrer bisherigen Verbundenheit mit dem Moskauer Patriarchat in der Kritik. Dagegen versucht sich die Orthodoxe Kirche der Ukraine als national-patriotische Kirche zu profilieren. Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche wiederum muss die Äußerungen des Papstes erklären.
Seit dem 24. Februar 2022 tobt der Krieg in der Ukraine. Keiner kann momentan seriös einschätzen, wie lange er noch dauern, wann und wie er enden wird. Dass dieser Krieg schon jetzt Politik und Wirtschaft erheblich beeinflusst, liegt auf der Hand. Der Krieg wirkt sich auch auf die religiösen Verhältnisse sowohl auf der lokalen Ebene als auch auf die globalen zwischenkirchlichen Beziehungen und die Ökumene aus. Dieser Beitrag blickt auf die gegenwärtige religiöse Situation in der Ukraine und geht nach sechs Monaten Krieg der Frage nach, wie dieser das Zusammenleben und Miteinander der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine beeinflusst, und welche Tendenzen sich in der religiösen Landschaft, vor allen in den großen Kirchen, beobachten lassen.
Religiöser Pluralismus in der Ukraine
Bekanntlich gilt Osteuropa als Raum, der, religiös gesehen, von der Orthodoxie geprägt war und ist. Aufgrund bestimmter historischer Entwicklungen bekennt sich sowohl in Russland als auch in Belarus und der Ukraine die Mehrheit der Bevölkerung zum orthodoxen Glauben. Dies hat zur Folge, dass die Orthodoxe Kirche im gesellschaftlichen und politischen Leben weiterhin ein wichtiger Faktor ist. Sie genießt im russischen und belarusischen Staat eine privilegierte Stellung, die jedoch ihren Preis hat. In den letzten Jahren und jetzt im Krieg ist unschwer zu erkennen, welche Funktion etwa der russischen Orthodoxie von der staatlichen Seite zugedacht ist. Sie bleibt für den Staat eine wesentliche Kraft zur Erhaltung der Integrität des postsowjetischen Raumes und bei der Rechtfertigung der Kriegsziele in der Ukraine. Der Staat bedarf der Mitwirkung der Kirche, indem sie die ideologische Legitimation für die russische Außenpolitik liefert, denn die russischen Kriegsziele bestehen unter anderem darin, einen imaginären orthodoxen zivilisatorischen Raum zu „schützen“.
Schaut man auf die religiöse Struktur in der Ukraine, so ähnelt diese der von Russland und Belarus, auch hier bekennt sich der Großteil der Bevölkerung zur Orthodoxie (über 60 Prozent). Dennoch ist die religiöse Landschaft in der Ukraine im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Staaten vielschichtiger und heterogener. Diese Tatsache ist den politischen und kulturellen Entwicklungen auf diesem Gebiet geschuldet. Der Werdegang der Ukraine als unabhängiger Staat ist sehr komplex. Bedenkt man, dass das Land erst 1991 seine politische Unabhängigkeit erlangt hat und ihm eine historische Kontinuität der Staatlichkeit fehlt, muss man sich zwei Faktoren vor Augen halten. Erstens: Die heutige Ukraine war im Laufe der Geschichte in verschiedene Herrschafts- und Kulturräume aufgeteilt, einzelne Regionen gehörten zu unterschiedlichen politischen Staatsformen, machten unterschiedliche historische Erfahrungen und wurden dementsprechend anders geprägt. Diese Prägungen hörten auch nach 1991 nicht auf zu existieren, sondern zeigen sich bis heute mit unterschiedlicher Intensität. Zweitens: Die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu anderen Staaten ist die Ursache dafür, dass sich die Beziehungen der Ukraine zu ihren Nachbarstaaten kompliziert gestalten. Historische Reminiszenzen, geopolitische Interessen und die damit verbundenen verborgenen und offensichtlichen Territorialansprüche destabilisieren den politischen Frieden sowohl im Land selbst als auch in Osteuropa im Allgemeinen.
Die gegenwärtige – für die nicht Fachkundigen fast unüberschaubare – plurale religiöse Landschaft der Ukraine ist direkte Folge dieser komplexen Entwicklungen. Der historisch bedingte religiöse Pluralismus, der sich im Laufe der Jahrhunderte etabliert hat, spielt in der aktuellen politischen Lage eine nicht unbedeutende Rolle. Natürlich sind die Kirchenverhältnisse in der Ukraine nicht ideal. In den 1990er Jahren verlief der stürmische Umbau des religiösen Lebens und der kirchlichen Strukturen keineswegs konfliktfrei. Alle Konfessionen spielten ihre „Trümpfe“ aus: Die griechisch-katholischen Christen rühmten sich ihrer Treue zu Rom und ihres Überlebens im Untergrund. Die autokephalen Kirchen betonten ihre Unabhängigkeit von landesfremden Kirchenoberhäuptern. Und die Russische Orthodoxe Kirche klagte laut, dass ihre Strukturen in der Ukraine gewaltsam zerschlagen würden.
Nichtdestotrotz wirkt sich gegenwärtig die religiöse Vielfalt schon allein deshalb positiv aus, weil sie einen gewissen konfessionellen Ausgleich schafft. Die in zwei rivalisierende Lager gespaltene Orthodoxie (aus ekklesiologischer Perspektive eine Anomalie), katholische, protestantische, jüdische und muslimische Gemeinden tragen dazu bei, dass keine religiöse Gemeinschaft in allen Regionen des Landes eine absolute Mehrheit und Dominanz beanspruchen kann. Dank der Diversität der konfessionellen Landschaft kann keine Kirche (weder orthodox noch katholisch) die Rolle einer quasi-Staatskirche einnehmen.
Geeint in der Krise
Zum ersten Mal zeigte sich die religiöse Vielfalt von ihrer positiven Seite während der Proteste auf dem Majdan in Kyjiw 2013–2014 und der darauffolgenden russischen Aggression auf der Krim und im Osten der Ukraine. Mit einer bislang nicht bekannten Intensität fingen die religiösen Gemeinschaften an, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen, und traten entschieden für die territoriale Integrität der Ukraine ein.[1] Außerdem bemühten sie sich um eine kritischere Distanz zum Staat und um eine deutlichere Positionierung zugunsten der erstarkten Zivilgesellschaft.
Von einer großen Einstimmigkeit ist auch die Beurteilung des jetzigen Krieges Russlands in der Ukraine seitens der ukrainischen religiösen Gemeinschaften gekennzeichnet. Hier zeigt sich wiederum die Konsolidierungsfähigkeit in Krisenzeiten. Den russischen Angriff verurteilte der Allukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften, dem die meisten religiösen Gruppen angehören,[2] in mehreren einstimmigen Stellungnahmen. Dasselbe taten einzelne Kirchen. Bereits Wochen zuvor hatten sich die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) und die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) in mehreren Erklärungen zur bedrohlichen Lage in der Ukraine geäußert, die russische Vorgehensweise und militärische Machtspiele entlang der ukrainischen Grenze verurteilt sowie sich mit dem ukrainischen Staat solidarisiert. Die Reaktionen der beiden Kirchen kamen nicht überraschend, denn schon früher vertraten sie eine klare proukrainische Richtung. Unmittelbar nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilten die Oberhäupter dieser Kirchen – Metropolit Epifanij (Dumenko) von der OKU und Großerzbischof Svjatoslav (Schevtschuk) von der UGKK – den Krieg. Sie forderten von Putin, die Gewalt zu beenden und die Integrität der Ukraine zu respektieren.
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) hielt sich bis zum russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 eher zurück. Es schien, dass manche ihrer Vertreter sich eine russische Invasion nicht vorstellen konnten, sie sprachen sogar davon, dass der Krieg nur im Fernsehen und im Internet geführt werde und keine echte Gefahr bestehe. Aber bereits in den ersten Stunden nach dem Überfall auf die Ukraine meldete sich Metropolit Onufrij (Berezovskij), der Vorsteher dieser Kirche, mit einer Stellungnahme zu Wort und verurteilte schärfstens den Krieg Russlands gegen die Ukraine. In seinem Appell verwarf er den „Bruderkrieg“ zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk, der mit keinen Argumenten zu rechtfertigen sei. Zugleich sprach er sich für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine und für die Unterstützung der ukrainischen Armee aus. Am Montag, dem 28. Februar, erschien eine Erklärung der Bischofsversammlung dieser Kirche mit einem weiteren dringenden Appell an den Moskauer Patriarchen Kirill mit der Bitte um dessen Wort, was als Forderung zu einer Positionierung in diesem Krieg verstanden werden kann, damit das „brudermörderische Blutvergießen“ in der Ukraine aufhöre.[3]
Ukrainische Orthodoxe Kirche – mit oder ohne Moskau?
Gegenwärtig scheint unter den christlichen Konfessionen in der Ukraine die UOK den schwersten Stand zu haben. Sie gilt nach der Gemeindezahl (etwa 12 000) als die größte Kirche in der Ukraine und ist/war mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) und Patriarch Kirill in Moskau kanonisch verbunden, hatte aber innerhalb der ROK einen autonomen Status und konnte sich weitgehend selbstständig verwalten. Nichtdestotrotz wurde sie im russlandkritischen Teil der ukrainischen Gesellschaft als Kirche wahrgenommen, die russische kirchliche und politische Einflüsse in die Ukraine importierte und verbreitete.[4] Nach dem Angriff Russlands spitzte sich die Kritik noch zu, zumal der russische Präsident Vladimir Putin in seiner Rechtfertigung des Krieges unter anderem auf die Unterdrückung der orthodoxen Glaubensbrüder verwies. Eine klare Zurückweisung und Verurteilung der russischen Aggression durch Metropolit Onufrij reichte offensichtlich nicht aus.
Dabei stellt die Positionierung von Patriarch Kirill von Moskau ein großes Problem dar, der die politischen Geschehnisse ganz anders interpretiert als sein Mitbruder Onufrij. Es gibt von den offiziellen Stellen des Moskauer Patriarchates keine ausdrückliche Verurteilung des „Bruderkrieges,“ keine alternativen Äußerungen, kein Wort darüber, dass die zu seiner Kirche gehörenden Gemeinden in der Ukraine den Einmarsch nicht wollen. Stattdessen wiederholt Kirill ununterbrochen das propagandistische Narrativ des russischen Staates, mit dem der Krieg gerechtfertigt wird, und stuft ihn sogar als einen „metaphysischen Krieg gegen das Böse“ ein. In seinen Predigten behauptet er, Russland sei bedroht, und es sei erforderlich, das Heimatland und die „wahre Unabhängigkeit unseres Landes“ zu verteidigen. Russinnen und Russen müssten „aufwachen“, denn in dieser besonderen „traurigen“ Zeit entscheide sich wahrscheinlich „das historische Schicksal unseres Volkes“.[5] Widersprüchlicher kann es nicht zugehen: Der Patriarch von Moskau steht auf der Seite des Aggressors Putin und segnet die russische Armee in ihrem Kampf gegen Menschen, die aber in großer Zahl seiner Kirche angehören. Zugleich segnet der ukrainische Teil seines Episkopates die ukrainische Armee.
Die UOK ist wegen des Krieges einer ungeheuren Spannung ausgesetzt und steht vor einer Zerreißprobe. Ihre Treue zu Moskau kostet sie sehr viel. Immer lauter werden die Stimmen in der ukrainischen Gesellschaft, sie solle sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht, zu was sie sich bekennt und was ihre Zukunft in der Ukraine ist – mit oder ohne bisherige Verbundenheit mit dem Patriarchat von Moskau. Der starke Druck der ukrainischen Öffentlichkeit zwingt die UOK, dringend nach Lösungen zu suchen. Unter den Bischöfen und im Klerus gibt es sehr unterschiedliche Meinungen dazu. Gläubige in der Ukraine empfinden es zunehmend als Zumutung, Patriarch Kirill in den Gottesdiensten kommemoriert zu hören und für ihn zu beten. Etwa ein Fünftel der Bischöfe hat deshalb innerhalb weniger Wochen nach Kriegsbeginn aus Protest mit dieser Praxis gebrochen. Damit wurde das gemeinsame Band mit Moskau zwar nicht zerrissen, aber eine deutliche Distanzierung von Patriarch Kirill vorgenommen.
Einige ukrainische Priester forderten, die Gemeinschaft mit dem Patriarchat von Moskau ganz abzubrechen. Andere hofften auf eine Bischofsversammlung, um über die aktuelle Lage zu diskutieren. Mitte April riefen etwa 400 Priester mit ihrer Unterschrift unter einer Petition dazu auf, ein orthodoxes Kirchengericht unter der Leitung der Vorsteher der alten Kirchen von Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Zypern einzuberufen. Es solle den Fall des russischen Patriarchen behandeln und Kirill gegebenenfalls verurteilen. Sie erhofften sich dadurch eine „De-Kirillisierung“ der russischen Orthodoxie. Zuletzt erklärte die UOK auf einer Kirchenversammlung am 27. Mai 2022 ihre volle Unabhängigkeit von Moskau.[6] Diese Entscheidung löste viele Spekulationen aus, denn im Dokument der Kirchenversammlung wurde der in der Orthodoxie für die Bezeichnung einer unabhängigen Kirche übliche Begriff „Autokephalie“ nicht verwendet. Vom Moskauer Patriarchat wurden daher die Beschlüsse der UOK nicht als eine Ablösung von Moskau wahrgenommen, sondern als bloße Bestätigung jenes Status interpretiert, den die Kirche schon seit 1990 besitzt.
Was die Entscheidungen vom 27. Mai tatsächlich bedeuten, und welche Wirkung sie haben werden, lässt sich noch nicht beurteilen. Die kirchliche Situation in der Ukraine müsste Patriarch Kirill aber große Sorge bereiten. Denn fast ein Drittel aller Gemeinden des Moskauer Patriarchats weltweit befindet sich in der Ukraine, die zu verlieren für die ROK einer Katastrophe gleichkäme. Er muss wissen, dass die von ihm geleitete Kirche für seine Pro-Putin-Äußerungen einen hohen Preis zahlen könnte. Doch Kirill stemmt sich mit seiner Ideologie gegen die Realität. Er richtet seine Gebete auf die „Bewahrung der Einheit seiner Kirche und der geistigen Einheit der Rus’“ und hält weiter die Einheit seiner Kirche von innen heraus für unverbrüchlich; nur Fremdeinwirkung könne sie bedrohen. Es kann dennoch niemand sagen, ob die Einheit der ROK diesen Krieg überdauern wird.
„Ostpolitik“ als griechisch-katholisches Problem
Die Position der UGKK zum Krieg Russlands ist eindeutig und klar: sie verurteilt den russischen Angriff auf schärfste. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine gilt sie als Kirche, die bedingungslos eine von russischen Einflüssen freie Ukraine unterstützt. Sie stellte sich immer auf die Seite der proukrainischen und proeuropäischen Strömungen in der ukrainischen Gesellschaft und Politik. Es mag daher überraschend sein, dass ihre Leitung seit dem Beginn des Krieges immer wieder in Erklärungsnot gerät, wenn Papst Franziskus oder Vertreter der Römischen Kurie sich zur Lage im Osten Europas äußern. Der Grund dafür liegt in ihrem ekklesialen Status. Diese mit Rom unierte Kirche geht auf die Union von Brest (1595/96) zurück.[7] Damals hatte sich die Mehrheit des Episkopats der Kyjiwer orthodoxen Metropolie im Polnisch-Litauischen Reich, die bis dahin Teil des Patriarchates von Konstantinopel war, entschlossen, mit der römischen Kirche eine Union einzugehen. Die UGKK feiert ihre Gottesdienste genauso wie die Orthodoxen im byzantinischen Ritus, der wesentliche Unterschied zu den orthodoxen Kirchen besteht in der Anerkennung des Papstes von Rom als Oberhaupt der katholischen Kirche. Die enge Verbundenheit und Abhängigkeit von Rom führt dazu, dass Äußerungen des Papstes über den Krieg auf die UGKK projiziert werden, und ihre Bischöfe sich gezwungen fühlen, vatikanische Standpunkte zu erklären bzw. zu rechtfertigen.[8]
In den ersten Monaten des Krieges gaben Papst Franziskus und seine Mitarbeiter durch ihre Stellungnahmen mehrfach Anlass zu Unzufriedenheit und Kritik in der ukrainischen Gesellschaft, denn das scheinbare Anliegen des Papstes und der vatikanischen Diplomatie, über dem Krieg zu stehen, kommt in der Ukraine nicht gut an. Allem voran bemängelt die ukrainische Seite beim Papst eine fehlende klare Benennung des Täters und Verursachers dieses Krieges. Der Papst hat bislang weder den Namen von Präsident Putin noch von Russland als Aggressor und Auslöser des Krieges in den Mund genommen. Dagegen lehnt er entschieden ab, den Krieg in schwarz-weißen Farben zu sehen, und gibt auch westlichen Mächten Mitschuld an der Eskalation, vor allem dem Militärbündnis NATO. Hier sei nur das umstrittene Zitat des Papstes vom „Bellen der NATO vor Russlands Tür“[9] erwähnt, das er einem Gespräch mit einem ungenannten Politiker entnommen hatte.
Die Versuche von Papst Franziskus, den Kontakt zu der in der Ökumene fast isolierten ROK aufrechtzuerhalten, schaden seinem Ansehen und seiner Autorität in der Ukraine. Gespräche mit Patriarch Kirill, der mehrmals geäußerte Wunsch nach Moskau zu reisen, um sich dort mit Putin zu treffen, und ein geplantes Treffen mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen in Kasachstan im September 2022 liefern Anlässe für Missverständnisse und Kritik. Allerdings steht die ukrainische Bevölkerung einer Reise des Papstes in die Ukraine trotzdem positiv gegenüber.
Nicht weniger irritierte der Versuch des Vatikans, am Karfreitag 2022 eine Versöhnungsgeste zwischen den Menschen in Russland und der Ukraine zu inszenieren. Als bekannt wurde, dass bei einer Station während des Kreuzweges im Kolosseum eine ukrainische und eine russische Frau gemeinsam das Kreuz tragen sollten, löste dies in der Ukraine eine Welle der Empörung aus. Obwohl die UGKK und die ukrainische Politik große Bedenken wegen der Angemessenheit dieser Geste geäußert hatten, wurde die Station in einer leicht modifizierten Form dennoch durchgeführt.[10]
Diese nur kurz skizzierten Beispiele deuten an, wie kompliziert es für die UGKK ist, den Spagat zwischen Kyjiw und Rom zu schaffen. Einerseits unterstützt sie kompromisslos das ukrainische national-politische Narrativ und sieht die Ukraine als Opfer des russischen Angriffes; andererseits bleibt sie ein Teil der katholischen Kirche, deren Oberhaupt der Papst von Rom ist und dem sie zur Loyalität verpflichtet ist.
Orthodoxe Kirche der Ukraine als„Profiteurin“?
Die einzige von den großen Kirchen in der Ukraine, die aus der gegenwärtigen Lage Kapital schlagen könnte, müsste die OKU sein. Sie entstand aus der Fusion der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kyjiwer Patriarchates und der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche. Beide waren lange Zeit nicht anerkannt und galten bis 2019 in der Weltorthodoxie als nicht kanonisch, d. h. sie hatten keine kirchliche Gemeinschaft mit den anderen orthodoxen Kirchen. Im Januar 2019 anerkannte Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel, das Ehrenoberhaupt der Orthodoxie, die Autokephalie der Ende 2018 gegründeten OKU.[11] Als eine Kirche, die im Gegensatz zur UGKK und UOK weder von Rom noch von Moskau abhängig ist, sollte sie mit ihrem Narrativ am besten in das politische Konzept der unabhängigen Ukraine hineinpassen. Seit dem Kriegsbeginn besteht ihre Taktik im Verhältnis zur UOK überwiegend darin, deren Gemeinden dazu zu bewegen, aus patriotischen und politischen Gründen ihre bisherige von Moskau abhängige Jurisdiktion zu verlassen und sich ihr anzuschließen.
Diese Anschlussstrategie bleibt nicht nur umstritten und rechtlich kompliziert, sondern sorgt auch für neue lokale zwischenkonfessionelle Antagonismen. Auch ihre Erfolge bleiben sehr bescheiden. In den ersten Monaten des Krieges ist die Zahl der tatsächlich vollzogenen Übertritte verhältnismäßig gering. Der Leitung der OKU ist es nicht gelungen, akzeptable Vorschläge für eine Einigung anzubieten, um einen tragfähigen Vereinigungsprozess in der ukrainischen Orthodoxie in Gang zu setzen. Als kleiner Hoffnungsschimmer darf dagegen ein erstes informelles Treffen von Geistlichen der beiden Kirchen am 5. Juli 2022 in Kyjiw angesehen werden, das mit Unterstützung staatlicher Behörden zustande kam. Dabei ging es nicht um die Lösung bestehender Probleme, sondern mehr um den Dialog als solchen.[12] Ob diese Begegnung der Beginn von etwas Neuem und Zukunftsorientiertem ist, lässt sich noch nicht abgeschätzen. Über die weitere Entwicklung der religiösen Landschaft kann man nur spekulieren. Eines scheint aber sicher zu sein: diese Landschaft wird nicht mehr dieselbe sein wie vor dem 24. Februar 2022.
Anmerkungen:
[1]) Mykhaleyko, Andriy: Gott auf dem Majdan: Die Rolle der Kirchen in der Ukraine-Krise. In: ContaCOr 17 (2015); Mykhaleyko, Andriy: Die ukrainischen Kirchen nach dem Majdan. In: RGOW 44, 6–7 (2016), S. 18–21.
[2]) Krawchuk, Andrii: Constructing Interreligious Consensus in the Post-Soviet Space: The Ukrainian Council of Churches and Religious Organizations. In: Krawchuk, Andrii; Bremer, Thomas (eds.): Eastern Orthodox Encounters of Identity and Otherness: Values, Self-Reflection, Dialogue. New York 2014, S. 273–300.
[3]) Zenger, Natalija; Zwahlen, Regula; Kube, Stefan: Der Krieg in der Ukraine und die Rolle der Kirchen. In: RGOW 50, 3 (2022), S. 16–18.
[4]) Bortnyk, Sergii: Die gegenwärtige Situation der ukrainischen Orthodoxie. In: RGOW 46, 3 (2018), S. 17–19.
[5]) http://www.patriarchia.ru/db/text/5914188.html.
[6]) Fert, Andriy: Neue Handlungsspielräume in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche. In: RGOW 50, 7 (2022), S. 21–23.
[7]) Mykhaleyko, Andriy: Geschichte und Gegenwart der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. In: RGOW 41, 11–12 (2013), S. 10–13.
[8]) Babynskyi, Anatolii: Ambivalenter Ansatz. Ukrainische Wahrnehmungen der Vatikan-Politik. In: RGOW 50, 7 (2022), S. 24–25.
[9]) https://www.domradio.de/artikel/papst-erlaeutert-umstrittenes-zitat-zu-nato-und-russland.
[10]) Marynovych, Myroslav: Das Kreuz von Abel und das Kreuz von Kain sind verschiedene Kreuze, https://noek.info/hintergrund/2419-das-kreuz-von-abel-und-das-kreuz-von-kain-sind-verschiedene-kreuze.
[11]) Zenger, Natalija; Kube, Stefan: Neu gegründete Orthodoxe Kirche der Ukraine wird autokephal. In: RGOW 47, 1 (2019), S. 3–4.
[12]) Dudchenko, Andriy: Hoffnung auf Beginn eines Vereinigungsprozesses, https://noek.info/hintergrund/2550-hoffnung-auf-beginn-eines-vereinigungsprozess.
Andriy Mykhaleyko, Dr., Privatdozent am Lehrstuhl Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Bild: Auf ihrem Konzil am 27. Mai 2022 erklärte sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche unabhängig vom Moskauer Patriarchat. (Foto: church.ua)