Nachlassendes Interesse. Kirchliche Sozialarbeit in Russland
RGOW 08-09/2022
Die beiden orthodoxen Priester Alexander Stepanov und Lev Bolschakov waren Pioniere beim Aufbau kirchlicher Sozialarbeit nach dem Ende der Sowjetunion. Sie gründeten die Bruderschaft der hl. Anastasija, aus der verschiedene Projekte und Organisationen entstanden, mit denen G2W auch heute noch zusammenarbeitet, darunter das Basilius-Zentrum und der Fonds Diakonia. Im Interview blickt Vater Alexander auf die Anfänge der kirchlichen Sozialarbeit in Russland zurück und beschreibt die heutigen Bedingungen für soziales Engagement.
Wann wurde kirchliche Sozialarbeit in Russland wieder möglich, und wie erlebten Sie deren Anfänge?
Der Auslöser war der offensichtliche gesellschaftliche Bedarf nach einer besseren Versorgung in den Krankhäusern sowie nach Unterstützung von Kindern und älteren Menschen. Auf dieser Grundlage entstand Ende der 1980er Jahre in St. Petersburg die Wohltätigkeitsgesellschaft „Barmherzigkeit“ (Miloserdije) des Schriftstellers Daniil Granin. Unter seiner Schirmherrschaft begann die Arbeit von orthodoxen Gläubigen in Krankenhäusern. Die 1980er und 1990er Jahre waren eine Zeit des Erwachens von allerlei gesellschaftlichen Aktivitäten, nachdem sie 70 Jahre lang durch die Sowjetmacht weitestmöglich unterdrückt worden waren. Beflügelt von der Perestroika strebte jeder selbständig denkende Mensch danach, seine Energie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen – Politik, Kultur, Bildung und sozialer Bereich – zu verwirklichen. Die Idee, dass insbesondere wir Christen uns an dieser Tätigkeit beteiligen müssen, wurde, wir mir scheint, von Katholiken eingebracht, die aus westlichen Ländern nach Russland eingereist waren und mit denen wir in jenen Jahren Kontakt hatten.
Was motivierte Sie als Priester der Russischen Orthodoxen Kirche zum Engagement für kirchliche Sozialarbeit?
Als wir [Vater Alexander und Vater Lev] zu Priestern geweiht wurden, beschäftigten wir uns beide schon aktiv mit dieser Arbeit und begeisterten in der Folge auch unsere Gemeindemitglieder dafür. Die Themen diktierte das Leben selbst: Aus verschiedensten sozialen Einrichtungen wandte man sich mit Bitten um materielle Hilfe sowie mit Bitten um Besuche zum Gebet an uns. Wir gingen darauf ein, soweit wir dies konnten. Einige Projekte riefen wir selbst ins Leben, ausgehend von der für uns offensichtlichen Notwendigkeit. In dieser Hinsicht war für uns der Austausch mit dem Ehepaar Posdeeff, russischen Emigranten in München, hilfreich, ebenso die ersten Seminare zu kirchlicher Sozialarbeit, die das Ehepaar 1991 zuerst im orthodoxen Frauenkloster Bussy-en-Othe in Frankreich und danach in St. Petersburg organisierte. Sie machten uns auf die für die Orthodoxie traditionellen Organisationsformen aufmerksam, die wir zu nutzen begannen. Dabei griffen wir auf die Erfahrung orthodoxer Bruderschaften und Schwesterschaften und die Entwicklung der Sozialarbeit in den Gemeinden Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, die am Landeskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche 1917/18 diskutiert worden waren. Zu Beginn unserer Tätigkeit waren diese der Mehrheit der einfachen Gläubigen, aber auch einem bedeutenden Teil der Geistlichen fast unbekannt und schienen ihnen wie eine seltsame Neuerung.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit G2W?
Die Zusammenarbeit mit G2W wurde von den Posdeeffs eingeleitet, die uns an dem Seminar in St. Petersburg im Oktober 1991 mit Pfarrer Eugen Voss, dem Gründer von G2W, und mit Franziska Rich, der neuen Projektverantwortlichen, bekannt machten.[1] Ich und Vater Lev waren damals noch Laien. Danach begann die systematische Unterstützung seitens G2W für unsere Arbeit; diese konzentrierte sich anfangs insbesondere auf die Kirchgemeinde Kondopoga in Karelien, wohin Vater Lev im Herbst 1991 für seinen Dienst umzog. In Kondopoga sah sich Vater Lev beim Aufbau seiner Gemeinde mit schwierigen sozialen Problemen konfrontiert – mit zahlreichen vernachlässigten Kindern und Jugendlichen, Alkoholabhängigen und Obdachlosen. Pfarrer Voss initiierte zur Unterstützung der sozialen Arbeit zwei Gemeindebetriebe: eine Schreinerei und ein Sägewerk.
Pfarrer Voss brachte uns auch auf die Idee zur Schutzherrin unserer Tätigkeit in St. Petersburg: auf die hl. Märtyrerin Anastasija die Kettenlöserin, die gefangene christliche Märtyrer besucht und deren Wunden gepflegt hatte. Der Name unserer Bruderschaft nach der hl. Anastasija war insofern passend, da wir mit zwei Arbeitsbereichen begonnen hatten: der Hilfe in Krankenhäusern und Besuchen in Gefängnissen. 1992 wurde die Bruderschaft der hl. Anastasija in St. Petersburg offiziell registriert. Sie war die erste selbstständige kirchliche wohltätige Organisation in St. Petersburg. G2W unterstützte in jenen Jahren auch die Arbeit des Radiosenders La Voix de l’Orthodoxie, der von Paris aus religiöse Radiosendungen produzierte. Ich interessierte mich für das Radio und schloss mich dieser Arbeit langsam an. Daraus erwuchs gegen Ende der 1990er Jahre das Radio Grad Petrov in St. Petersburg, das religiöse und kulturelle Sendungen produziert. Anfang der 2000er Jahre begann eine neue Phase in der Zusammenarbeit mit G2W. 2001 gründeten wir das Basilius-Zentrum, das straffällig gewordene Jugendliche mit dem Ziel der gesellschaftlichen Wiedereingliederung betreut. G2W hat den Aufbau des Zentrums von Anfang an begleitet.
Wie hat sich die kirchliche Sozialarbeit in den letzten 30 Jahren entwickelt? Und in welchem Verhältnis stehen kirchliche und staatliche Sozialarbeit zueinander?
Der soziale kirchliche Dienst erlebte in den 1990er Jahren eine stürmische Entwicklung; viele Sozialprojekte wurden initiiert, nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern auch in anderen Eparchien der Russischen Orthodoxen Kirche. Die verbreitetste Form des Diensts waren die Schwesternschaften, die sich vor allem mit Hilfsangeboten in den staatlichen Krankenhäusern engagierten. In den 2000er Jahren wurden eigene kirchliche Einrichtungen mit Krankenstationen aufgebaut (Armenhäuser für ältere Menschen, Waisenhäuser, Rehabilitationszentren für Drogenabhängige oder freigelassene Häftlinge). Leider konnte sich diese Arbeit kaum weiterentwickeln, da sie einerseits vom Staat nicht unterstützt wurde, und andererseits die ausländische Unterstützung aufgrund einer gewissen Ermüdung und eines Befremdens der Spender:innen („das Land ist doch eigentlich reich, und doch verlangen sie Hilfe“) zu schrumpfen begann.
Außerdem wurde staatlicherseits schrittweise eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, welche die Tätigkeit von Organisationen, die Hilfe aus dem Ausland erhalten, erschwerte. Jetzt ist klar, dass eine solche Unterstützung für lange Zeit gestoppt ist. Ende der 2000er Jahre begann sich zugleich ein System staatlicher Unterstützung für sozial orientierte Non-Profit-Organisationen (NPO) in Russland herauszubilden. Es entstanden mehrere staatliche und staatsnahe Fonds, die NPOs, auch kirchlichen, Finanzhilfen gewähren. Aber für die Arbeit einer sozial tätigen Organisation, die stationär Menschen betreut, funktioniert diese Form der Finanzierung schlecht, da sie nicht endlose Start-Up-Hilfen benötigt, sondern eine planmäßige Finanzierung der laufenden Arbeit. Die Unterstützung mit Zuschüssen erlaubt es einer NPO, die Tätigkeit mit großen Schwierigkeiten weiterzuführen, aber eine seriöse Weiterentwicklung, um ein alternatives, an den Bedürfnissen des Menschen orientiertes nichtstaatliches System sozialer Einrichtungen zu schaffen, ist damit unmöglich. Die Regierung hat bewusst das sowjetische staatliche alternativlose Modell der verwahrenden Sozialhilfe und Unterstützung der Bevölkerung gewählt.
Vor dem Hintergrund der staatlichen Sozialleistungen – Renten, medizinische Versorgung, etc. – können nichtstaatliche Organisationen quantitativ nur eine subsidiäre Rolle spielen. Doch die Erfahrungen von Organisationen wie beispielsweise dem Basilius-Zentrum oder von Diakonia, die eine Drogenberatungsstelle in St. Petersburg und ein Rehabilitationszentrum für Suchtkranke im Gebiet von Pskov unterhält, zeigen, dass deren Arbeit und Professionalität qualitativ sehr viel hochwertiger ist als diejenige von staatlichen Organisationen. Die NPOs lösen offenkundige Probleme, um die sich staatliche Organisationen überhaupt nicht kümmern.
Vor welchen Herausforderungen steht die kirchliche Sozialarbeit gegenwärtig?
Insgesamt scheint mir der Enthusiasmus für den sozialen Dienst in der Kirche nachzulassen. Die Bürokratisierung, die sich in den letzten Jahren in der Kirche verbreitet hat, trägt ebenfalls nicht zu lebendigen Initiativen bei. Es werden sehr viele Berichte über die geleistete Arbeit verlangt, und zugleich ist klar, dass der Wirklichkeitsgehalt dieser Berichte kaum jemanden interessiert. Das Interesse verschiebt sich stattdessen zu patriotischer Großmachtrhetorik, die in der orthodoxen Tradition ebenfalls tiefe Wurzeln hat. Diese Rhetorik wird aktiv vom Staat unterstützt. Natürlich bleibt etwas und entsteht aus der Unveränderlichkeit des christlichen Imperativs der Nächstenliebe auch etwas Neues, aber ein unbändiges Aufblühen wohltätiger kirchlicher Aktivitäten lässt sich nicht beobachten.
Die Freiwilligenbewegung generell erlebt momentan die gleichen Probleme. Die Jugend macht sich zum Beispiel um die Ökologie oder die Abfalltrennung Sorgen. Aber auch diese Initiativen betrachtet der Staat als eine gefährliche Vereinigung der Menschen „von unten“, deshalb ist das Verhältnis zu ihnen ambivalent: Irgendwie ist die Sache nützlich und – Gott sei Dank (!) – nicht politisch, aber wer weiß schon, zu was all diese Initiativen führen werden? Auf was richtet diese organisierte Gemeinschaft morgen ihre Aufmerksamkeit? Bedingungslose Unterstützung erhalten dagegen patriotische und insbesondere militärisch-patriotische Vereinigungen, die unter der unermüdlichen Kontrolle der entsprechenden staatlichen Strukturen auftauchen und existieren. Solche Vereinigungen werden auch im Umfeld orthodoxer Kirchgemeinden immer mehr, insbesondere wenn ein Geistlicher Diensterfahrung in der Armee oder anderen Sicherheitskräften hinter sich hat.
Anmerkung:
[1]) Zwahlen, Regula; Rich, Franziska: „Es war eine chaotische Zeit, aber auch eine Zeit großer Hoffnungen“. In: RGOW 49, 12 (2021), S. 30–31.
Bild: Alexander Stepanov zählt zu den Pionieren bei dem Aufbau der kirchlichen Sozialarbeit. (Foto: Bruderschaft der hl. Anastasija)