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Vom „Zusammenbleiben“ zum „Gemeinsam unterwegs sein“

RGOW 06/2022
Michael Biehl

Seit Jahrzehnten verschiebt sich die geografische Verteilung der Mitglieder des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) in den globalen Süden. So hat sich das „Gesicht“ des Christentums deutlich gewandelt. Dies hat weitreichende Folgen für die Arbeitsweise und thematischen Fragestellungen im ÖRK sowie für die europäischen Theologien, die sich ihrer Kontextgebundenheit bewusst werden müssen.

Vom 31. August bis zum 8. September werden Delegierte der Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe, Deutschland, zusammenkommen. Es wird die elfte Vollversammlung seit seiner Gründung 1948 sein, die dritte in Europa und die erste in Deutschland. Andere Gremien des ÖRK wie das Exekutivkomitee und der weitaus größere Zentralausschuss haben bereits in Deutschland getagt. Insbesondere die Tagung des Zentralausschusses 1981 in Dresden zu Zeiten der DDR war wichtig für die Beziehung zwischen den Kirchen im damaligen Ostblock und in anderen Weltregionen.

Die kommende Vollversammlung wird zwar in Deutschland stattfinden, aber dazu eingeladen wurde in Gemeinschaft mit den protestantischen Kirchen in Frankreich (Elsass-Lothringen) und der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz. Karlsruhe wird so als ein Ort in einer grenzüberschreitenden Region erkennbar und steht zusammen mit Straßburg und Basel für ein vereintes Europa. Die Vollversammlung des ÖRK findet alle acht Jahre statt. Die Delegierten der derzeit 352 Mitgliedskirchen kommen aus aller Welt zusammen, um die Richtlinien für die programmatische Arbeit des Rates festzulegen und die Mitglieder der ÖRK-Gremien zu wählen.

Vielfältige Veranstaltungen in Karlsruhe
Vollversammlungen haben mehrere konzentrische Kreise von Veranstaltungen. Die ca. 1 000 offiziellen Delegierten der Mitgliedskirchen und dem Rat nahestehender Organisationen kommen zu Geschäftssitzungen, thematischen Plenarversammlungen, Workshops und Bibelarbeiten zusammen. Auch Berater:innen, offizielle Gäste und andere, die sich für eine Teilnahme an dieser Vollversammlung registriert haben, nehmen teil. Über die Plenarsitzungen und Workshops für die Delegierten hinaus wird es weitere Veranstaltungen in Karlsruhe und Umgebung geben. Dazu zählen ca. 100 Workshops im sog. „Brunnenprogramm“, wofür sich Gruppen aus der ganzen Welt mit Themen wie Gerechtigkeit, Ökologie, gerechtes Wirtschaften, Frieden beworben haben. Von den deutsch-schweizerisch-französischen Einladenden werden außerdem weitere Veranstaltungen zu vergleichbaren Themen angeboten, die sich insbesondere an Interessierte und Tagesgäste aus der Region wenden. Ein weiteres wichtiges Element ist seit der letzten Vollversammlung in Busan das sogenannte Global Ecumenical Theological Institute (GETI) mit ca. 150 fortgeschrittenen Studierenden, die aus der ganzen Welt zu einem theologischen Seminar zusammenkommen, das die Vollversammlung begleitet.

Die große Zahl der Teilnehmenden, die zahlreichen Veranstaltungen und deren Themen zeigen, dass der ÖRK eines der wesentlichen Foren der ökumenischen Bewegung ist, auch wenn er diese nicht insgesamt abbildet. Die Mitgliedskirchen stammen mit großer Mehrheit aus der Vielzahl der protestantischen Kirchen, den anglikanischen Kirchen und der orthodoxen Kirchenfamilie. Die römisch-katholische Kirche arbeitet mit stimmberechtigten Delegierten in zweien der wichtigen Kommissionen des ÖRK mit: in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung (englisch abgekürzt als F&O) und der Kommission für Weltmission und Evangelisation (englisch abgekürzt als CWME). Erstere bemüht sich, die Konfessionsökumene auf dem Weg zur sichtbaren Einheit voranzubringen. Sie geht auf die gleichnamige, 1925 gegründete Bewegung zurück, die ebenso wie die Bewegung Praktisches Christentum 1948 im ÖRK aufgegangen ist. Die zweite Kommission führt nach der Integration des Internationalen Missionsrates 1961 in den ÖRK auf der Dritten Vollversammlung in Neu-Delhi die Tradition der Missionsbewegung im ÖRK fort.

Die Gründung und die Arbeit des ÖRK war und ist begleitet von ekklesiologischen und theologischen Fragen über die Dignität einer solchen Gemeinschaft von Kirchen aus der ganzen Welt. Es gab von einigen Kirchen die Sorge, dass versucht werden könnte, aus dem ÖRK eine Art „Superkirche“ zu machen, oder dass eine Mitgliedschaft die Kirchen an Beschlüsse des Rates binden könnte. Das war allerdings nie die Intention oder das Selbstverständnis des ÖRK. In der Satzung anlässlich der Gründung des ÖRK heißt es dazu, dass der Rat die Gemeinschaft seiner Mitglieder ist, die sich gegenseitig unterstützen und in der Aufgabe stärken, Zeugnis vom Evangelium und für Jesus Christus vor der ganzen Welt abzulegen und dazu aufzurufen, ihm zu folgen. Für die Arbeit und die Beschlüsse der Delegierten gilt das sog. Konsensprinzip. Es beruht auf gegenseitiger Achtung und abstimmender Beratung, nicht auf Mehrheitsbeschlüssen. Ein solches Prinzip steht einer verpflichteten Gemeinschaft von Kirchen gut an, weil es insbesondere für die Bearbeitung strittiger Fragen einen Rahmen bereitstellt. Es bietet allerdings auch einzelnen Kirchen die Chance, Erklärungen zu umstrittenen Fragen zu blockieren, wie immer wieder zu beobachten ist.

Das neue Gesicht der Weltchristenheit
352 Mitgliedskirchen klingt nach einer großen Zahl. Gemäß statistischen Schätzungen repräsentieren die Mitgliedskirchen des ÖRK etwa 560–580 Mio. Christ:innen, was ungefähr einem Viertel der geschätzten Gesamtzahl von etwa 2,1 Milliarden Christ:innen weltweit entspricht. Etwa die Hälfte davon wird der römisch-katholischen Kirche zugerechnet. Um 600 Mio. Gläubige reklamieren die evangelikal orientierten Kirchen und Gemeinschaften, und dem pfingstcharismatischen Spektrum wird ein weiteres Viertel zugerechnet. Wer nachrechnet, stellt fest, dass die Zahlen nicht ganz aufgehen. Zum einen, weil die Zahlen auf unterschiedlichen Schätzungen beruhen, zum anderen, weil die Kategorien oftmals nur schwer abzugrenzen sind. Es gibt große evangelikale und charismatische Bewegungen innerhalb der historischen Kirchenfamilien, was darauf hindeutet, dass es in bestimmten Bereichen eher die theologischen Profile – liberal, konservativ, evangelikal, pfingstcharismatisch – als die klassischen konfessionellen Unterscheidungen sind, die Abgrenzungen definieren.

Seit einigen Dekaden lässt sich außerdem eine Verschiebung des Gravitationszentrums der Christenheit in den globalen Süden beobachten. Diese wird an drei markanten Merkmalen erkennbar: Erstens leben mittlerweile ca. zwei Drittel der Christinnen und Christen weltweit in Regionen, die als globaler Süden und von manchen als Mehrheitswelt beschrieben werden. Das ist die Folge einer Entwicklung, die besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat, als der christliche Glaube sich besonders in Asien und Afrika stark verbreitete. Das zahlenmäßige Wachstum folgte dabei auch der Bevölkerungsentwicklung und hat die religiöse Situation auf den anderen Kontinenten stark verändert. Zweitens verringerte sich im gleichen Zeitraum nachhaltig die Zahl der Christen und Christinnen in den nordatlantischen Regionen. Anders als manche Christ:innen im globalen Süden glauben, besteht hierbei jedoch kein kausaler Zusammenhang, sondern es handelt sich um gleichzeitige Entwicklungen. Eine Folge beider Entwicklungen ist allerdings, dass sich drittens das Bild des Christen oder der Christin stark verändert hat. Statt eines weißen Mannes, der einer Mittelschichtskirche in Europa oder den USA angehört, ist das Gesicht des Christentums heute überwiegend weiblich, hat eine andere Hautfarbe als weiß und ist jung. Das schlägt sich auch darin nieder, was geglaubt und theologisch gedacht wird, denn die Prägekraft der nordatlantischen Theologie schwindet. An vielen Orten lautet das Stichwort „decolonize theology“, und eine der großen Hausforderungen für die europäischen Theologien ist, sich als Theologien eines bestimmten Kontextes und nicht als global gültig zu begreifen. Auch dies spiegelt sich in den theologischen Auseinandersetzungen innerhalb des ÖRK wider, wenn es darum geht, wie der Einfluss von Moderne und von Säkularisierungsprozessen einzuschätzen ist, von Mission, Evangelisation und Dialog oder Fragen der menschlichen Sexualität. Konsequenzen aus diesen Debatten können beispielsweise in der letzten Missionserklärung des ÖRK „Gemeinsam für das Leben. Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten“ (2012) nachgelesen werden, die für die letzte Vollversammlung in Busan wichtig war.

Somit ist weltweit eine komplexe Gemengelage zu beobachten, selbst wenn es nur um die Christenheit geht. Neben den historischen Kirchen, die ja auch in Asien oder Afrika seit den Anfangstagen des Christentums präsent sind, gab und gibt es neue Aufbrüche außerhalb der klassischen Kirchenfamilien und damit auch außerhalb der Mitgliedschaft des ÖRK. Die historisch bedingten Trennlinien zwischen den Kirchenfamilien wie den byzantinisch-orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Kirchen, der römisch-katholischen oder den vielen protestantischen Kirchen und die damit gesetzten ekklesiologischen und theologischen Fragen bleiben bestehen und prägen die Debatten über Einheit im ÖRK. Doch in der Weltchristenheit treten vermehrt auch andere Momente in den Vordergrund. Zu denken ist hier an die Pfingstbewegung in ihren vielfältigen unterschiedlichen Ausprägungen wie den klassischen Pfingstgemeinden der Assembly of God-Tradition oder den jüngeren neopfingstlerischen Ausprägungen. Dazu kommt eine schwer zu überschauende Zahl unabhängiger Gemeindegründungen, Kirchen und Missionsbewegungen, Migrationsgemeinden auf allen Kontinenten, die dazu beitragen, dass die Weltchristenheit sich überaus dynamisch entwickelt. Auch mitten in unseren Städten in Europa gibt es neue Gemeindegründungen und viele Gemeinden mit Migrationshintergrund. Auf dem Globus bewegen heute sich mehr Missionarinnen und Missionare als je zuvor. Unter den zehn Ländern, aus denen zahlenmäßig die meisten dieser Missionar:innen stammen, finden sich heute drei Länder, die dem globalen Süden zugerechnet werden: Brasilien, Indien und Nigeria. Missionar:innen von dort arbeiten auch in Europa.

Vielfalt als Herausforderung
Die Vielfalt an Kirchen ist nicht immer ein Segen und sie existiert an manchen Orten in Spannungen. Die Vollversammlung des ÖRK ist offen für Repräsentant:innen, Delegierte und Gäste aus den unterschiedlichsten christlichen Bewegungen und auch von anderen Religionsgemeinschaften. Doch grundsätzlich wird bei einer Vollversammlung das Spektrum erkennbar, das wir aus einer langen Kirchengeschichte kennen. Der Rat kann neben der römisch-katholischen Kirche für sich in Anspruch nehmen, den größeren Teil der historischen protestantischen Kirchen, der anglikanischen, der orthodoxen und der orientalisch-orthodoxen Kirchenfamilien zu organisieren – doch er bleibt ein Ausschnitt der weltweiten Christenheit.

Neben dem ÖRK und den konfessionellen Weltbünden gibt es in der Weltchristenheit Organisationen, Netzwerke und Missionsbewegungen, die sich etwa in der Lausanner Bewegung oder in der Weltweiten Evangelischen Allianz organisieren. Aus den Reihen der letzten beiden kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Vorwurf, dass der ÖRK keine geistliche, sondern eine politische Veranstaltung sei, für den Gerechtigkeitsfragen und politisches Engagement höher auf der Agenda ständen als die Verkündigung des Evangeliums. Viele der damals aufgeworfenen Streitfragen haben sich inzwischen entschärft und Annäherungen haben stattgefunden, auch aufgrund von Veränderungen innerhalb des ÖRK. Inzwischen nehmen Vertreter:innen der genannten Organisationen an den Vollversammlungen teil, und man ist über alle Spannungen im Gespräch.

Die Veränderungen und dynamischen Bewegungen in der weltweiten Christenheit sind auch Anlass für ökumenische Initiativen, die über die Mitgliedschaft des ÖRK hinausweisen. Hier ist das Global Christian Forum zu nennen, eine Plattform, die in der Zusammenarbeit von Einzelpersonen die dogmatisch-ekklesiologischen Trennlinien überwinden will. Ein anderes wichtiges Moment einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit war der Prozess auf das 100-jährige Jubiläum der legendären ersten Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh. Dazu hatten sich die genannten und weitere Organisationen zusammengetan, um gemeinsam auf diese Konferenz zurückzublicken, die in mehrfacher Hinsicht als Ausgangspunkt der modernen ökumenischen Bewegung gilt. Ein weiterer wichtiger Moment war die Erarbeitung und Verabschiedung des Dokumentes „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“, das 2011 vom ÖRK, der Weltweiten Evangelischen Allianz und dem Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog gemeinsam verabschiedet wurde. Dessen Jubiläum wurde vor kurzem gemeinsam in Rom begangen.

In einem Studienprozess in den 1990er Jahren hat der ÖRK seine Basis dahingehend interpretiert, dass er eine Gemeinschaft von Kirchen ist, die „gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind“. Dieses veränderte Selbstverständnis war auch eine Reaktion auf die Erweiterung der Kreise, mit denen der ÖRK seine ökumenische Berufung teilt. Als Gemeinschaft von sehr unterschiedlichen Kirchen versteht er sich als Plattform und als Moderator für von den Kirchen getragene Prozesse. Das gibt der Vollversammlung und den Gremien, die zwischen den Vollversammlungen tagen, eine große Bedeutung, wenn es darum geht, Programmrichtlinien zu formulieren. In Amsterdam 1948 hatten die Kirchen in den Nachkriegswehen gelobt, zusammenzubleiben. In Busan wurde 2013 die Pilgerreise der Gerechtigkeit und des Friedens mit dem Motto „Gemeinsam unterwegs“ ausgerufen. In den Jahren nach Busan konzentrierten sich ökumenische Teams auf Besuche von Orten des Schmerzes und des Widerstandes von Christ:innen und auf begleitende theologische Arbeit. Teams besuchten unter anderem Israel/Palästina, Korea, den Südsudan und Kolumbien. Sie nahmen Anteil am Leiden und am Widerstand der Menschen in den Konfliktsituationen und machten die Solidarität der ökumenischen Bewegungen für sie erfahrbar. Gleichzeitig sollte durch die Zeugnisse und Erfahrungen eine Spiritualität für Frieden und Gerechtigkeit weiterentwickelt werden.

Gegenwärtig werden neben den Gerechtigkeits- und Friedensfragen von vielen Kirchen besonders die Folgen des Klimawandels thematisiert und ein ökotheologisches Engagement gefordert. Nicht nur die Mitglieder vieler Kirchen im Pazifik, der Sahelzone oder dem Amazonasgebiet sind unmittelbar und hart von den Folgen des Klimawandels betroffen. Sie fordern die Solidarität der weltweiten Gemeinschaft, aber auch ein Umdenken und eine Umkehr in den Industrienationen. Auch das steht auf der Tagesordnung für Karlsruhe.

Provokation der Liebe Christi
Wenn die Delegierten in Karlsruhe zusammenkommen, bringen sie unter dem Motto der Vollversammlung „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“ ihre Erfahrungen und Geschichten von ihren Leiden und Kämpfen mit. Die Vielfalt ist groß, die Kontraste stark, und jede Vollversammlung ist eine Herausforderung, eine Gemeinschaft zu bleiben und gemeinsam unterwegs zu sein. Berichte aus Bürgerkriegssituationen gehören ebenso dazu wie die aus dem Mittleren Osten oder aus Ländern, in denen Christ:innen bedrückt und angefeindet werden.

Als die Vollversammlung geplant wurde, konnte niemand ahnen, dass gegenwärtig der Krieg in der Ukraine tobt, und niemand weiß, wie die Situation dort im September sein wird. Doch schon jetzt hat der Krieg zu einer Krise in der Ökumene geführt, weil die Russische Orthodoxe Kirche (ROK), deren Kirchenleitung den Krieg unterstützt, Mitglied im ÖRK ist. Der Rat bietet jetzt sein diplomatisches Kapital auf, um die ROK, die Kirchen in der Ukraine und den angrenzenden Ländern im gemeinsamen Gebet und der Forderung zusammenzubringen, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein dürfe, wie es 1948 hieß. In dieser Zeit und gegen den Klammergriff der Pandemie will die Versammlung des ÖRK ein Zeichen für den Frieden und für das Einstehen für das Leben sein. Es ist eine Provokation und Proklamation für die Welt zugleich, dass dies für die Kirchen des ÖRK durch die Liebe Christi geschieht.

Michael Biehl, Dr., ist Theologischer Referent in der Evangelischen Mission weltweit (EMW), dem Dach- und Fachverband von Kirchen und Missionswerken.

Bild: Das Gesicht des Christentums wird bunter und vielfältiger: Täuflinge in Nigeria (Foto: Shutterstock.com).

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