Unter Beschuss. Zerstörung religiöser Objekte in der Ukraine
RGOW 01-02/2023
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat bisher zur Zerstörung von 400 religiösen Gebäuden geführt. 30 religiöse Würdenträger wurden getötet. In den besetzten Gebieten wird den Religionsgemeinschaften vielfach ihr Besitz weggenommen oder sie werden in russische religiöse Verwaltungsstrukturen eingegliedert. Das Projekt "Religion on Fire" dokumentiert die Verbrechen, um Beweise für eine spätere Anklage zu sammeln.
Mit dem Beginn der Großinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Russland die bisher größte Eskalation des schon seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 andauernden, bewaffneten Konflikts verursacht. Seither sind weite Gebiete der Ukraine besetzt oder es spielen sich dort Kampfhandlungen ab. Das gesamte Staatsgebiet wird regelmäßig mit Raketen und Artillerie beschossen. Durch den Beschuss und die Kampfhandlungen wurden Wohngebäude, Objekte der zivilen Infrastruktur sowie Kulturdenkmäler beschädigt, auch religiöse Stätten. Praktisch von Tag Eins des Überfalls an wurde das religiöse Leben in der Ukraine zur Zielscheibe. In den bisher elf Monaten des russischen Angriffskriegs wurden 30 religiöse Würdenträger getötet und über 400 religiöse Gebäude zerstört. Religiöse Führungsfiguren wurden verletzt oder entführt, und in den besetzten Gebieten werden Gläubige und religiöse Würdenträger verfolgt.
Auf politischer, militärischer und religiöser Führungsebene wurden von der Russischen Föderation verschiedene Begründungen und Zielsetzungen für den Angriff auf die Ukraine angeführt. Politiker hoben die Notwendigkeit einer „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ hervor. Aber auch religiöse Motive wie die Bewahrung der orthodoxen Welt vor dem Ansturm „westlicher“ Werte wurden zur Legitimation des Krieges herangezogen. Die kirchlichen Oberhäupter der Russischen Föderation, die den Angriffskrieg von Beginn an unterstützten, bezichtigten die Ukrainer verschiedener Sünden sowie der „Besessenheit von Dämonen“. In seiner Weihnachtspredigt 2023 erklärte Patriarch Kirill von der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), dass „von den Häretikern keine Spur bleiben“ würde, „weil sie einen bösen, teuflischen Willen ausführen und die Orthodoxie auf der Kyjiwer Erde zerstören. Ich glaube, wir werden nicht lange warten müssen. […] So wie auch das politische Böse der Sowjetführer, die Hand an die Kirche legten, zerschlagen wurde, so wird auch die momentane Führung nicht mehr lange über die Ukraine herrschen.“[1]
Kriegsverbrechen gegen Religionsgemeinschaften
Während bewaffneter Konflikte stehen zu religiösen Zwecken genutzte Gebäude unter besonderem Schutz und sie anzugreifen oder zu beschießen, gilt als Kriegsverbrechen. Im Falle ihrer Zerstörung wird die freie Religionsausübung der Zivilbevölkerung schwer eingeschränkt, was das humanitäre Völkerrecht verbietet. Kriegsverbrechen werden sowohl im Rahmen nationaler Gesetzgebung als auch unter Berufung auf das humanitäre Völkerrecht verfolgt. Bereits gegenwärtig gibt es auf der internationalen Ebene Bemühungen, die in der Ukraine gegen die Religionsfreiheit und Religionsgemeinschaften verübten Kriegsverbrechen zu ermitteln und zu dokumentieren. Im Einzelnen geht es um Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und um Überlegungen eines internationalen Sondertribunals für die russische politische wie militärische Führungsriege.[2] In Expertenkreisen wird allerdings angezweifelt, ob sich ein solches Tribunal kurzfristig ins Leben rufen lässt.
Die Ukraine kennt auf nationaler Ebene keine klar definierten Rechtsnormen in Bezug auf Kriegsverbrechen gegen die Religion. Art. 438 des Ukrainischen Strafgesetzbuchs, in dem es um Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Kriegs geht, unterscheidet keine gesonderte Kategorie von Kriegsverbrechen gegen die Religionsfreiheit oder religiöse Stätten. Der Artikel verweist vielmehr auf internationale Vertragswerke wie die Haager Landkriegsordnung „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ inklusive ihrer Zusätze und Erweiterungen und verpflichtet das ukrainische Parlament darauf, im Einklang damit gesetzgeberisch zu handeln.
Zur Beweisführung von Kriegsverbrechen ist es von größter Wichtigkeit und unerlässlich, dazu Daten zu sammeln, Spuren zu sichern und Vorkommnisse detailliert zu dokumentieren. Auf einer religionswissenschaftlichen Tagung im März 2022 wurde das Projekt Religion on Fire initiiert, bei dem die durch die Militäraktionen der russischen Armee verursachten Schäden an religiösen Gebäuden erhoben und dokumentiert werden sollen. Das Projektteam erstellt dazu eine Datenbank, in der chronologisch Fälle von Kriegsverbrechen, namentlich die Zerstörung religiöser Stätten und die Schädigung von Geistlichen, sowie systematisch die Schwere der Schäden katalogisiert werden. Mit größtmöglicher Genauigkeit und Ausführlichkeit sind Zeit, Ort, Tathergang und Art der Schäden in der Datenbank erfasst.
Dabei kommen verschiedene Methoden der Informationsgewinnung zum Einsatz. Erstens wurde seit Projektbeginn ein systematisches Online-Monitoring von Open-Source-Materialien und sozialen Netzwerken lokaler religiöser Gemeinschaften und verschiedener religiöser Organisationen durchgeführt sowie Berichte aus Militär- und Regierungsquellen zum Thema gesichtet. Momentan sind es 150 verschiedene Quellen, die im Rahmen des Projekts ausgewertet werden. Zweitens reisen Repräsentanten des Projekts nach vollzogener Minenräumung in die bereits befreiten Gebiete, um religiöse Stätten in Siedlungen zu besuchen, die unter Beschuss genommen wurden oder unter der Herrschaft der Besatzer standen. So sollen auch Kriegsverbrechen gegen Gemeinschaften erfasst werden, die erlittene Schädigungen und Zerstörungen nicht über öffentlich zugängliche Kanäle publik machen konnten. Während ihres Aufenthalts vor Ort haben die Delegationen auch Gelegenheit mit den Repräsentanten der lokalen religiösen Gemeinschaften zu sprechen und so den Hergang der Ereignisse zu präzisieren. Drittens bündelt das Projektteam die seitens der religiösen Organisationen selbst erhobenen Daten sowie von Journalisten recherchierte Informationen.
Beschuss und Zerstörung religiöser Gebäude
Während des Krieges sind bisher über 400 religiöse Einrichtungen zerstört oder beschädig worden. Unter den betroffenen Objekten sind Kirchen, Gebetshäuser, Kapellen, Wegkreuze, Synagogen, Grabmäler, Moscheen und pädagogische Einrichtungen. Deren genaue Anzahl lässt sich momentan unmöglich angeben, da die Kampfhandlungen andauern, und ein Teil der Ukraine noch unter russischer Besatzung steht. Der Zugang zu religiösen Gebäuden ist oft erschwert, vielerorts ist die Informationslage noch unklar. Verschiedentlich sind religiöse Stätten zufällig getroffen worden (durch Flächenbombardements oder weil Geschosse nicht zielgenau einschlugen), doch gibt es auch genügend Daten zu gezielten Attacken seitens des russischen Militärs.
Entgegen den Beteuerungen aus der Führungsriege der ROK werden ukrainische Kirchen, insbesondere auch solche, die die russische Seite als kanonisch anerkennt, direkt vom russischen Militär zerstört. Der Sachverhalt, dass die Schäden ganz überwiegend orthodoxe Gebäude und Einrichtungen betreffen, entlarvt das russische Propagandanarrativ, dass die „militärische Spezialoperation“ notwendig sei, um die „orthodoxe Zivilisation“ vor dem abtrünnigen und feindlichen Westen zu retten. Rund die Hälfte der zerstörten oder schwer beschädigten religiösen Gebäude gehört der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK), die bis Ende Mai 2022 noch dem Moskauer Patriarchat angehörte, und die regional besonders stark im Osten und Südosten des Landes vertreten ist. Zumindest zählten sie zur Zeit des Beschusses noch dazu, denn viele Gemeinden haben sich nach der Zerstörung ihres Gotteshauses und/oder nach den Erfahrungen der Besatzung mittlerweile dazu entschieden, die Kirche zu verlassen. Die Zahl der Übertritte von der UOK zur Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) im Jahr 2022 hat landesweit die Zahlen der Wechselwelle von 2018–2021 übertroffen, und dieser Prozess setzt sich fort.
Am zweithäufigsten waren Gebäude und Einrichtungen protestantischer Kirchen betroffen. Bisher wurden mindestens 125 Gebäude zerstört oder beschädigt, darunter Gebetshäuser, Gemeindesäle und theologische Seminare verschiedener Gemeinschaften. Zerstört wurden weiterhin ca. 30 Gebäude der OKU, 15 der jüdischen Gemeinschaft, zehn der katholischen Kirche sowie sechs muslimische Einrichtungen.
Unter den 400 betroffenen Objekten sind über 100 entweder vollständig zerstört oder wurden so schwer beschädigt, dass dort kein religiöses Leben mehr stattfinden kann. Über 150 religiöse Gebäude wurden allein in den beiden Regionen Donezk und Luhansk zerstört, wo heftige Kämpfe toben und die frontnahen Städte unter konstantem Beschuss liegen. Mindestens 13 Gebäude von regionaler und fünf von nationaler Bedeutung wurden beschädigt und teilweise vollständig zerstört. Beschädigt wurde auch die auf der Kandidatenliste für die Aufnahme ins UNESCO-Welterbe stehende Verklärungs-Kathedrale in Tschernihiv, ein Architekturdenkmal aus den Zeiten der Kyjiwer Rus.
Bedrohte Religionsfreiheit
Gemeinden sterben auch dadurch aus, dass die Gläubigen in großer Zahl ihre Heimatorte verlassen. Dies verändert auch das religiöse Leben in anderen Ländern. In Polen hat die Anzahl der ukrainischen Orthodoxen die Anzahl der polnischen Orthodoxen innerhalb von nur wenigen Monaten überflügelt, was das Gefühl hervorrief, die Identität der Angehörigen der Polnischen Orthodoxen Kirche geriete ins Wanken und sogar in die Kampagne #Prawosławnynieruski (Orthodox ist nicht gleich Russisch) mündete, mit der die Gläubigen zeigen wollten, dass ihr orthodoxer Glaube nicht gleichbedeutend mit einer Unterstützung Russlands ist. In verschiedenen europäischen Ländern sind neue Gemeinden der UOK und der OKU gegründet worden, obwohl es letzterer formal gar nicht zusteht, ukrainische Gläubige im Ausland zu betreuen, da für diese das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel zuständig wäre. Auch die griechisch-katholischen Auslandsgemeinden wachsen.
Gleichzeitig findet eine beschleunigte Abwanderung pro-russisch-orthodoxer Würdenträger aus der Ukraine nach Russland statt. Dazu zählen Metropolit Elisej (Ivanov) von Isjum und Kupjansk und Metropolit Iosyf (Maslennykov) von Romny und Burynsk in der Region Sumy, die freiwillig nach Russland übersiedelten, während andere von den ukrainischen staatlichen Autoritäten dazu gezwungen wurden. Bekannt ist auch der Fall eines Priesters der UOK, Andrij Pavlenko aus Lyssytschansk, der wegen Kollaboration verurteilt worden war und im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs am 14. Dezember 2022 ausgetauscht wurde. Diese Vorgänge führen zu einer Konzentration von Repräsentanten der UOK auf dem Gebiet der Russischen Föderation, und in russischen fundamentalistischen Kreisen wird bereits die Möglichkeit erwogen, dort eine extraterritoriale Struktur zu begründen, falls das Wirken der Kirche in der Ukraine verboten werden sollte.
In den von Russland besetzten Gebieten findet ein tiefgreifender Wandel des religiösen Lebens statt. Einige religiöse Organisationen finden sich durch die Besatzung unmittelbar in der Illegalität wieder, so z. B. die Zeugen Jehovas. Diese sind in Russland verboten,[3] ihre Aktivitäten kamen auch in den besetzten ukrainischen Gebieten zum Erliegen. In den russischen Medien wird der Kampf gegen die Zeugen Jehovas als Kampf gegen Spione dargestellt. So lief auf einem der Hauptnachrichtensender im November 2022 ein Beitrag über die Enteignung eines Gemeindesaals der Zeugen Jehovas im Dorf Jakymivka in der Region Zaporizhzhja. Statt eines religiösen Versammlungsorts wurde dort ein Zentrum für „patriotische Erziehung“ der russischen Jugend angesiedelt.
Gebäude aus dem Besitz religiöser Organisationen wurden auch zu militärischen Zwecken genutzt. Im Projekt Religion on Fire wurden Daten zu mindestens sieben Fällen erhoben, in denen in Kirchen Militärstabsquartiere und Waffenlager eingerichtet wurden oder sich dort Scharfschützen positionierten. Gebäude und Land wurden auch religiösen Organisationen entzogen, die in Russland nicht offiziell verboten sind. Das Wirken religiöser Funktionsträger wurde durch Drohungen oder Entführungen zu unterbinden versucht. In den besetzten Gebieten wurden auch Ermordungen bekannt. 2022 kamen infolge der russischen Invasion mindestens 30 Geistliche verschiedener Glaubensrichtungen zu Tode. Mindestens 25 weitere wurden von den russischen Besatzern gefangengenommen und sind zum Teil immer noch inhaftiert. Viele weitere religiöse Funktionsträger wurden durch Artilleriebeschuss verletzt.
In den besetzten Gebieten wurden religiöse Gemeinschaften auch gezwungenermaßen oder freiwillig in russische religiöse Verwaltungsstrukturen eingegliedert. Am 29. März 2022 wurden die muslimischen Gemeinden im Gebiet Luhansk der Geistlichen Versammlung der Muslime Russlands (unter Mufti Albir Krganov) unterstellt, und am 22. April die muslimischen Gemeinden der Region Donezk der Geistlichen Verwaltung der Muslime der Russischen Föderation (Mufti Ravil Gajnutdin). Nachdem die UOK auf ihrem Konzil am 27. Mai 2022 ihre Loslösung von der ROK verabschiedet hatte, verweigerten sich etliche unter russischer Besatzung stehende Diözesen und Gemeinden dieser Neuerung und leiteten Schritte ein, die auf eine direkte Unterstellung unter das Moskauer Patriarchat hinauslaufen.
Schützenswerte religiöse Vielfalt
Das religiöse Leben in der Ukraine ist seit jeher durch einen hohen Grad an Pluralität und die Wertschätzung der Gewissensfreiheit gekennzeichnet. Die Situation in der Ukraine unterscheidet sich somit fundamental von der in der Russischen Föderation. In der Ukraine steht keine religiöse Konfession unter dem Schutz des Staates, und keine Kirche kann die absolute Vorherrschaft beanspruchen. In Russland hingegen ist trotz verfassungsmäßig garantierter Gewissensfreiheit eine streng hierarchische Struktur im Verhältnis von Kirche und Staat entstanden, wobei die Religionsfreiheit eingeschränkt ist, und bestimmte religiöse Minderheiten unter dem Vorwurf des Extremismus sogar verboten sind. Die von den russischen Besatzern in der Ukraine vorgenommenen Beschneidungen der Religionsfreiheit stellen daher nicht nur einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar, sondern sind auch ein Angriff auf die ukrainische Lebensart. So wie Russland mit der Zerstörung des kulturellen Erbes die ukrainische Identität zu zerstören versucht, so sollen mit religiöser Vielfalt und Religionsfreiheit diejenigen Werte und Prinzipien fallen, die für das geistliche Leben der Ukraine grundlegend sind.
In der Ukraine existierte jahrzehntelang eine besondere religiöse Landschaft, die sich von derjenigen in der Russischen Föderation abhob. Ihre Charakteristika waren ihre Vielfalt und das dichte Netzwerk religiöser Organisationen. Jenseits der reinen Quantität ist es aber auch wichtig, dass keine dieser Organisationen je eine Monopolstellung genoss. In der Ukraine gelten auch unter den Bedingungen des Krieges die Prinzipien der Religionsfreiheit und der religiösen Pluralität. Die russische Invasion, die Besetzung eines erheblichen Teils des ukrainischen Staatsgebiets, die in ihren Ausmaßen ungekannten Flüchtlingsbewegungen und das Verschwinden ganzer Städte und der dortigen lokalen religiösen Gemeinschaften von der Landkarte bedrohen die religiöse Vielfalt in der Ukraine. Ihre Wiederherstellung ist keine Selbstverständlichkeit. Es wird des fortlaufenden Engagements des Staates und der religiösen Gemeinschaften bedürfen, damit dieser einzigartige Grundzug des Lebens in der Ukraine nicht spurlos verschwindet.
Anmerkungen:
[1]) https://tv-soyuz.ru/Bozhestvennaya-liturgiya-8-yanvarya-2023
[2]) Senatorova, Oksana: Mit Recht gegen Gewalt. Strafverfolgung von Kriegsverbrechen. In: RGOW 50, 7 (2022), S. 14–17.
[3]) Dubrovskij, Dmitrij: Russlands Kampf gegen „religiösen Extremismus“. In: RGOW 46, 7–8 (2016), S. 20–23.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Beatrix Kersten.
Iryna Fenno, PhD, Religionswissenschaftlerin und Mitglied des Projektteams von Religion on Fire; Ass. Prof. am Departement für religiöse Studien an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kyjiw.
Ruslan Khalikov, PhD, Religionswissenschaftler und Leiter des Projekts Religion on Fire.