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Vereinzelter Protest. Die Belarusische Orthodoxe Kirche und der Krieg

RGOW 06/2023
Natalija Zenger

Russlands Krieg gegen die Ukraine, der auch von belarusischem Territorium aus geführt wird, hat Widerspruch unter orthodoxen Gläubigen ausgelöst. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen blieb jedoch die orthodoxe Kirche stumm und kooperiert weiter mit dem Staat. Das gesellschaftliche Ansehen der Kirche leidet darunter, und manche Priester und Gläubige wenden sich von ihr ab.

Mit dem Tod von Erzbischof Artemij (Kischtschanka) am 22. April 2023 hat Belarus seinen einzigen orthodoxen Bischof verloren, der offen kritische Positionen vertrat. So verurteilte Artemij, der von 1996 bis 2021 die Eparchie von Hrodna und Volkovysk geleitet hatte, nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus 2020 das gewaltsame Vorgehen der Behörden gegen die Proteste. In einer berühmt gewordenen Predigt am 16. August 2020 sagte er, dass die Behörden „auf die Knie gehen sollen für alle Fälschungen, für diese Lüge“. Er rief die Verantwortlichen auf, mit der Gewalt aufzuhören: „Ihr handelt nicht nach dem Evangelium! Ihr habt die Hand gegen Christus erhoben! Und euch wird nicht verziehen werden! Und eure Sache wird nicht standhalten!“ Schon in den 20 Jahren zuvor vertrat er ziemlich offen eine kritische Haltung gegenüber dem Staat, zudem verurteilte er als einziger Bischof der Belarusischen Orthodoxen Kirche (BOK) den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.[1]

Gewürdigt wurde Erzbischof Artemij von Svjatlana Tsichanouskaja, der belarusischen Oppositionsführerin im Exil, in ihrer Rede an der Eröffnung der Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) am 14. Juni in Tallinn. Sie zitierte aus einem Brief Artemijs an den russischen Patriarchen Kirill vom 9. Juni 2021, in dem der Erzbischof schrieb: „Unsere Laien sind anständiger und ehrlicher als alle von uns Bischöfen, die vielleicht schon längst vergessen haben, wie Menschen des Glaubens handeln sollten.“ Artemij sei einer der Bischöfe, die „es nicht vergessen haben“.[2]

Artemij hatte sich einen Tag, nachdem der Hl. Synod der BOK gegen seinen Willen seine Versetzung in den Ruhestand beim Hl. Synod der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) beantragt hatte, an den Patriarchen gewandt. Die BOK untersteht dem Moskauer Patriarchat und muss daher Personalentscheide auf Leitungsebene absegnen lassen, was die ROK in diesem Fall umgehend tat. Im Brief prangerte Artemij die Leitung der BOK für ihr Schweigen und die Zusammenarbeit mit dem Staat an. Die Entscheidung des Hl. Synods, ihn in den Ruhestand zu versetzen, halte er für „kanonisch unhaltbar, politisch motiviert und nicht zum Wohl der Kirche getroffen, sondern um den zivilen Behörden zu gefallen, die ihre Legitimität verloren haben“.[3] Seine Hoffnung, Kirill würde die Entscheidung zurückweisen, sollte sich nicht erfüllen. Schließlich waren die Differenzen zwischen den beiden so groß, dass sich Kirill nicht einmal zu ein paar Zeilen zu Erzbischof Artemijs Tod bemüßigt fühlte.[4]

Engagierte Laien und Priester
Ganz anders sieht es an der orthodoxen Basis aus. Im Gegensatz zur Kirchenleitung engagierten und engagieren sich unzählige Laien, aber auch Priester in den Massenprotesten gegen die Wahlfälschungen 2020 und in den Bemühungen um ein demokratisches Belarus. Unter den verhafteten, gefolterten und verurteilten Protestteilnehmer:innen sind viele Gläubige aller Konfessionen. Geistliche reagierten sofort auf die Ereignisse, boten Demonstranten Schutz, besuchten und versorgten Festgenommene, trotz des Risikos, selbst ins Visier der Justiz zu geraten.[5] Diese Kluft zwischen engagierten Gläubigen und schweigender Leitung, die weiterhin mit der Regierung kooperiert, schadet dem Ansehen der BOK in der Gesellschaft. Enttäuscht wenden sich Gläubige von der Kirche ab, manche schließen sich anderen Konfessionen an.

Die gesellschaftliche Situation hat sich mit dem Krieg gegen die Ukraine noch einmal verschärft. Nun werden Belarus:innen nicht mehr nur wegen Protesten gegen das Regime verfolgt, sondern auch für die Ablehnung des Kriegs. Denn damit üben sie wiederum Kritik an der politischen Führung, die den russischen Streitkräften das belarusische Territorium als Aufmarschgebiet zur Verfügung gestellt hatte, und von wo aus die Ukraine bis heute mit Raketen beschossen wird.

Die Verfolgung durch die Sicherheitsdienste betrifft auch mehrere Geistliche der BOK. So wurde Michail Marugo an einer Antikriegsdemonstration festgenommen und zu einem zweiwöchigen Arrest verurteilt. Andrej Nazdryn wurde wegen seiner Ansichten zur Ukraine all seiner Ämter enthoben. Erzpriester Pjotr Prakaptsou hatte sich geweigert, russisches Militärmaterial auf einem Flugplatz, der von russischen Truppen für Luftangriffe auf die Ukraine benutzt wird, zu segnen. Nachdem er sich zunächst auf eine Pilgerreise nach Litauen begeben hatte, wurde er von seinem Vorgesetzten unter Drohungen zurückbeordert und vom KGB befragt und unter Druck gesetzt. Daraufhin verließ er endgültig das Land. Ihm wurde das Ausüben des Priesteramts verboten.[6]

Besonders dramatisch ist der Fall von Priester Uladzislau Bahamolnikau, der 100 Tage am Stück in Haft verbrachte. Inhaftiert war er im berüchtigten Untersuchungsgefängnis Okrestina in Minsk, wo sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechterte, was über die Grenzen von Belarus hinaus Protest auslöste.[7] Erst nach mehr als drei Monaten wurde er angeklagt und auf Kaution freigelassen.

Kritiker und Unterstützer des Krieges
Nicht nur Laien verlassen die BOK, auch Geistliche kehren ihr den Rücken. Erzpriester Georgij Roj und Priester Alexander Kuchta zogen nach Litauen, weil ihnen in Belarus Verfolgung durch die Behörden droht. Auch sie hatten die Proteste unterstützt und den Krieg gegen die Ukraine kritisiert. Da die BOK ein Exarchat der ROK ist, die den Krieg offen unterstützt, war für sie ihr Dienst aufgrund ihrer moralischen Überzeugungen nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbar. Sie baten den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios, sie in seine Jurisdiktion aufzunehmen. Am 6. April 2023 kam Bartholomaios der Bitte nach, von der BOK wurden sie dafür umgehend mit dem Verbot, Gottesdienste zu feiern, bestraft.[8] In Litauen sind die beiden Priester in guter Gesellschaft: Fünf litauische Geistliche wurden ebenfalls vom Ökumenischen Patriarchat aufgenommen, nachdem ihnen von der orthodoxen Eparchie Litauen, die Teil der ROK ist, die Priesterwürde aberkannt worden war. Auch sie sind entschiedene Kriegsgegner.[9]

Die oppositionellen Geistlichen stehen in Belarus jedoch ziemlich allein da. So betreibt die Kirche militärisch-patriotische Clubs für Jugendliche. Diese sollen die Jungen zur Liebe zum Vaterland, Bereitschaft zum Militärdienst, zu orthodoxen Werten und „echten Männern“ erziehen. Mehrmals pro Woche werden die Mitglieder in Bereichen wie Nahkampf, Fitness, militärischem Wissen, erster Hilfe und orthodoxer Religion unterrichtet. Geleitet werden die Clubs von Geistlichen, die Ausbildner kommen aus den Sicherheitskräften. In den sozialen Medien teilen sie patriotische, prorussische Posts, darunter auch solche mit dem „Z“, dem russischen Symbol für den Krieg. Das Nachrichtenportal Mediazona zählt rund 20 solche militärisch-patriotische Clubs in Belarus.[10]

Besonders aktiv unterstützt das Frauenkloster der Hl. Elisabeth in Minsk den Krieg. Kürzlich organisierte es ein Konzert unter dem Slogan „Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich“, an dem Spenden für russische Soldaten gesammelt wurden. Auf der Bühne standen Portraits von Menschen aus dem Donbass, darunter militärische und zivile Anführer der sog. „Volksrepublik Donezk“. An einer Prozession des Klosters war das „Z“ zu sehen, eine Nonne posierte mit einer russischen Flagge und dem „Z“. Außerdem sammelt das Kloster fleißig Spenden für die russische Armee.[11]

Keine Alternative zum Schweigen?
Die repressive Atmosphäre in Belarus hat sich in den letzten Jahren nochmals erheblich verstärkt. Kritische Stimmen aus der orthodoxen Kirche werden von ihrer Leitung unter Druck gesetzt und vom Staat verfolgt. Auch Bischöfe sind nicht unantastbar, wie die Absetzung von Erzbischof Artemij zeigt. Damit war deutlich, was Abweichlern blüht. So lässt sich das Schweigen und die vorgebliche Distanz zur Politik vielleicht erklären, aber angesichts der dramatischen Ereignisse unmöglich rechtfertigen. Zugleich sind die Beispiele für eine aktive Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, darunter das Innenministerium, die Grenzpolizei oder das Verteidigungsministerium, und für die offene Unterstützung des Kriegs viel zu zahlreich.

Angesichts des Status der BOK als Exarchat der ROK überrascht das Verhalten der Kirchenspitze kaum. Die ROK und insbesondere Patriarch Kirill unterstützen Russlands Angriffskrieg offen. Somit ist es wenig verwunderlich, dass aus der Leitung der BOK keine Kritik am Krieg kommt. Schließlich ist Metropolit Veniamin (Tupeko) in seiner Funktion als belarusischer Exarch auch Mitglied des Hl. Synods der ROK. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele von Kirchen, die zwar zum Moskauer Patriarchat gehören, aber dessen Kriegskurs nicht folgen, wie die Debatten innerhalb und um die orthodoxen Kirchen im Baltikum zeigen.

Offensichtlich ist eine Distanzierung von der Haltung der ROK auch für Kirchen, die ihr unterstehen, möglich. Ein entscheidender Unterschied liegt wohl darin, dass die orthodoxen Kirchen im Baltikum in demokratischen Staaten agieren, in denen eine Antikriegshaltung klar eingefordert wird.[12] Die BOK hingegen befindet sich in einem autoritären Staat, und unterdrückerische Regime versuchten immer, Gläubige zu kontrollieren, erinnerte Svjatlana Tsichanouskaja in ihrer Eröffnungsrede in Tallinn: „Diktaturen versuchen, Kirchenführer zum Schweigen zu bringen und sogar ihre Billigung für Verbrechen zu erhalten. Und leider sind sie oft erfolgreich.“

Anmerkungen:
[1])    https://noek.info/nachrichten/osteuropa/belarus/2895-belarus-regimekritischer-erzbischof-artemij-gestorben

[2])    https://www.14dd5266c70789bdc806364df4586335-gdprlock/watch?v=_QjkVUg0aIs&list=PL83gYD9sZ1Jvt7U0xehe2zZthHs8Sy-mc&index=3

[3])    https://belarus2020.churchby.info/arhiepiskop-artemij-duhovnoe-zaveshhanie/

[4])    https://publicorthodoxy.org/2023/05/19/the-spirit-of-christian-freedom/

[5])    Vgl. RGOW 48, 12 (2020): Verordneter Stillstand und Proteste. Politik und Religion in Belarus und Russland.

[6])    https://shaltnotkill.info/presledovanie-hristian-za-antivoennuyu-pozicziyu-ili-podderzhku-ukrainy-v-zashhite-ot-agressii-so-storony-religioznyh-organizaczij-i-vlastej/

[7])    https://noek.info/nachrichten/osteuropa/belarus/2722-belarus-inhaftierung-von-uladzislau-bagamolnikau-verlaengert

[8])    https://noek.info/nachrichten/osteuropa/belarus/2881-belarus-orthodoxe-priester-wechseln-zum-oekumenischen-patriarchat

[9])    Vgl. den Beitrag von Sebastian Rimestad in dieser Ausgabe, S. 9–11.

[10]https://mediazona.by/article/2023/05/26/fatherland

[11]https://belarus2020.churchby.info/tag/svyata-lizavecinski-manastyr/

[12]https://noek.info/nachrichten/ostmitteleuropa/lettland/2671-lettland-orthodoxe-kirche-beschliesst-unabhaengigkeit-von-moskau

Bild: Priester Alexander Kuchta (rechts) spricht mit Erzpriester Georgij Roj über Erzbischof Artemij. Foto: Batushka otvetit/YouTube

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