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Der letzte Wildfluss Europas: Die Vjosa und die Gründung eines Nationalparks

RGOW 07-08/2023
Robert Pichler

Aus dem Widerstand gegen den Bau von Staudämmen ist die Idee eines Nationalparks an der Vjosa entstanden. Dieser soll auch Touristen in die periphere albanische Gebirgsregion locken. Seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems ist das Vjosatal von massiver Abwanderung betroffen. Migration ist zu einem festen Bestandteil der Lebensplanung geworden, gleichzeitig lässt sich eine Rückkehr kreativer Köpfe beobachten.

Die Vjosa, die im nördlichen Pindosgebirge als Aoos (griech. Αώος) entspringt und dann Richtung Nordwesten nach Albanien fließt, ist in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Die Vjosa gilt als der letzte größere naturbelassene Fluss Europas außerhalb Russlands. Der Flusslauf, der bis heute von allzu großer Besiedelung und von Industrialisierung verschont geblieben ist, bildet ein Gebiet mit einem fantastischen Mosaik aus unterschiedlichen Lebensräumen: enge Schluchten am Oberlauf, breite Schotterflächen und Sandbänke umgeben von mächtigen Gebirgslandschaften am Mittellauf und ein weitgehend natürliches Delta an der Adria-Küste.

Das Vjosatal ist über weite Strecken eine Peripherieregion, die von postsozialistischen Transformationsprozessen massiv tangiert wurde. Der Zusammenbruch der kollektivierten Land- und Viehwirtschaft sowie die Schließung der (spärlichen) Industriebetriebe entlang des Flusses haben zu einer Massenabwanderung und damit einhergehend zu einem Verfall der materiellen und sozialen Infrastruktur geführt – mit schwerwiegenden Folgewirkungen für das Ökosystem. Es bedarf konzertierter Kraftanstrengungen und umsichtiger politischer Entscheidungen, um den Ansprüchen von Umweltschützern, Wirtschaftstreibenden und Politikern an einen europäischen Vorzeigenationalpark gerecht zu werden.

Steiniger Weg zur Errichtung eines Nationalparks
Bereits in den 2000er Jahren plante die albanische Regierung die Vergabe von Konzessionen an internationale Unternehmen zum Bau von Wasserkraftwerken entlang der Vjosa. Ein erstes großangelegtes Bauvorhaben wurde 2007 in der Nähe des Dorfes Kalivaç, am Unterlauf der Vjosa, eingeleitet. 2010 wurden die Arbeiten jedoch eingestellt, noch bevor mit dem Bau der Staumauer begonnen worden war. Der fast 50 Meter hohe Staudamm hätte die Flusslandschaft nachhaltig zerstört.

Alarmiert von dieser Entwicklung forderten Naturschützer auf den Bau von Kraftwerken an der Vjosa und ihren Zubringern generell zu verzichten. Stattdessen sollte die Flusslandschaft in einen Nationalpark umgewandelt werden. Der Widerstand gegen geplante Bauvorhaben intensivierte sich seit 2014 mit internationaler Unterstützung. 2015 nahm das EU-Parlament Stellung zum Bau von Wasserkraftanlagen im Land. Der Flusslauf der Vjosa wurde dabei als ökologisch gefährdetes Gebiet eingestuft, der Bau von Staudämmen in diesem ökologisch so wertvollen wie sensiblen Gebiet müsse von der albanischen Regierung besser kontrolliert und die lokale Öffentlichkeit unbedingt angehört und in die Planung miteinbezogen werden.[1] Trotz dieser Einwände betraute die albanische Regierung nach einem Bieterverfahren und einer rasch durchgeführten Umweltverträglichkeitsprüfung 2016 ein türkisch-albanisches Konsortium mit dem Weiterbau des Kraftwerks in Kalivaç.[2] Diese Entscheidung mobilisierte und diversifizierte den Widerstand. In einer Petition an die albanische Regierung forderten 776 Wissenschaftler aus 46 Ländern die Einstellung aller geplanter Wasserkraftprojekte an der Vjosa.[3] Wissenschaftler und Umweltaktivisten beklagten zudem, dass die Vergabe von Konzessionen keineswegs internationalen Standards von Umweltverträglichkeitsprüfungen entsprach. Dass Korruption hierbei eine Rolle spielte, war allen Beteiligten klar. NGOs wie Riverwatch, EuroNature, MAVA, IUCN sowie die in Albanien tätige Organisation EcoAlbania forderten die Einstellung aller Bauvorhaben und die Errichtung eines Wildfluss-Nationalparks, der das gesamte Ökosystem – Einzugsgebiet, Nebenflüsse, Auen, Delta – sowie ihre Flora und Fauna bewahren würde.[4]

Was anfangs kaum jemand für möglich gehalten hatte, wurde im Juni 2022 Realität. Das Aufbegehren von Anrainergemeinden, Umweltschützern, Wissenschaftlerinnen, Kunstschaffenden und einer beträchtlichen internationalen Öffentlichkeit bewog die albanische Regierung dazu, an der Vjosa einen Wildfluss-Nationalpark zu errichten. Das gesamte Flusssystem der Vjosa von der Grenze zu Griechenland bis an die Adria wird unter Schutz gestellt, einschließlich ihrer frei fließenden Nebenflüsse. Angepasster Tourismus und Bio-Landwirtschaft sollen Eckpfeiler der Regionalentwicklung sein. Diese Entscheidung sollte auch Signalwirkung über die Grenzen Albaniens hinaus haben, denn in kaum einer Region Europas sind derart viele Flusskraftwerksprojekte geplant wie auf dem Balkan. Die NGO Save the blue heart of Europe hat auf ihrer Homepage eine Karte mit bestehenden und geplanten Wasserkraftwerken in der Region veröffentlicht, die eindrucksvoll die Dichte an Projekten vermittelt.[5]

Ausschlaggebend für das Umdenken war sicherlich auch das enorme Potential, das ein Fluss-Nationalpark für die Tourismusbranche besitzt. Der Tourismus hat in den letzten Jahren enorm an Fahrt aufgenommen. In nur 20 Jahren hat sich der Sektor in Albanien zu einem Wirtschaftsmotor entwickelt. Ein großer Teil dieses Zuwachses geht auf das Konto albanischer Touristen aus den Nachbarländern und aus der Diaspora, der Zustrom ausländischer Gäste ist in den Jahren 2014–2019 aber auch um 80 Prozent angestiegen. Zwar treibt es den Großteil der Albanienreisenden in den Sommermonaten an die Küste, immer mehr entdecken aber auch das Hinterland – die Berg-, See,- und Flusslandschaften – als reizvolle Reisedestinationen. Das Vjosatal zählt dabei zu den beliebtesten „Geheimtipps“ des Landes. Und tatsächlich ist das Feedback der Besucher, mit denen man in der Region ins Gespräch kommt, zumeist überwältigend.

Entvölkerung und Zerfall dörflicher Infrastruktur
So wie alle postsozialistischen Länder ist auch Albanien seit der Wende von massiver Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte und ins Ausland betroffen. Albanien weist darüber hinaus auch noch gewisse Spezifika auf: Kein anderes Land verzeichnete in der Zeit des Realsozialismus ein derart starkes Bevölkerungswachstum – zwischen 1945 und 1991 hat sich die Bevölkerung beinahe verdreifacht. Nirgendwo anders wurde ein derart rigides Migrationsregime innerhalb des Landes verfolgt. Diese Politik, die darauf abzielte, ein Gleichgewicht zwischen städtischer und ländlicher Entwicklung herzustellen (was letztlich scheiterte), führte dazu, dass die ländlichen Regionen und vor allem die Gebirge im Verhältnis zu den vorhandenen Ressourcen deutlich überbevölkert waren.

Als das kommunistische Regime 1991 kollabierte, kam es zu einer massiven Abwanderung. Hunderttausende Menschen zogen aus den gebirgigen Gebieten in die Ebenen und an die Küsten und vor allem nach Tirana, dessen Einwohnerzahl sich in den letzten 30 Jahren beinahe vervierfachte (von 230 000 auf über 800 000 Einwohner). Gleichzeitig kam es 1991 zu einer ersten massiven Auswanderungswelle Richtung Griechenland und Italien. 1997, als es infolge des Zusammenbruchs betrügerischer Geldanlageunternehmen, in die große Teile der Bevölkerung ihr Kapital investiert hatten, zu einem Aufstand gegen die Regierung und zu einem Verfall der staatlichen Ordnung kam, flüchteten abermals zigtausende Menschen ins Ausland.

Auch das Vjosatal war von dieser Entwicklung betroffen. Einerseits begann damals ein Prozess der Entvölkerung der Bergdörfer, andererseits kam es infolge der Deindustrialisierung auch zu einem Bevölkerungsschwund in den wenigen größeren Orten am oder in der Nähe des Flusses. Die Abwanderung schlägt sich in der Bevölkerungsstruktur nieder, sie reflektiert aber auch eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die sich auf die Beziehung der Menschen ihrer Umwelt gegenüber auswirkt.

Die Bevölkerung des Kreises Gjirokastra, in dem das Vjosatal liegt, ist in den vergangenen fünf Jahren um 16 Prozent geschrumpft. Die Statistik weist einen deutlichen Überhang von Männern aus, die in dieser Zeit abgewandert sind. War das Geschlechterverhältnis 2017 noch beinahe ausgeglichen, so lebten 2022 4 Prozent mehr Frauen als Männer in Region (28 711 gegenüber 26 567).[6] Das Durchschnittsalter von 39,4 Jahren macht die Region zur ältesten in ganz Albanien.

Viele Bergdörfer, die bis Mitte der 1990er Jahre noch stark besiedelt waren, sind mittlerweile verlassen oder werden nur noch von einigen wenigen Familien bewohnt. In Badëlonjë etwa, einem Dorf, das nur wenige hundert Meter über der Vjosa auf einer kleinen Anhöhe liegt, gab es Anfang der 1990er Jahre 80 bewohnte Häuser. Heute sind nur noch zwölf Häuser bewohnt, und es leben fast nur noch alte Menschen hier, die Jungen sind alle abgewandert. Die gesamte soziale Infrastruktur des Dorfes, die Schule, der Dorfladen, die Bäckerei und das Gemeinde- und Kulturhaus sind nicht mehr intakt. 1997 habe hier der große Exodus eingesetzt, erzählt man mir. Der Frust der Menschen über die Regierung nach dem Zusammenbruch der Pyramidenfirmen 1997 hatte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, der zu mutwilligen Zerstörungen und anarchischen Zuständen führte.

Heute ist Badëlonjë, so wie viele andere Bergdörfer in der Region, drastisch unterbevölkert. Es leben nicht mehr ausreichend Menschen im Dorf, um die fragile Infrastruktur einer Gebirgsregion zu erhalten: die Wege und Pfade, die Bewässerungssysteme, die Kanäle, die Wälder und die Wiesen, all das, was im Gebirge einer sorgfältigen Pflege bedürfte. Mit der Abwanderung hat sich auch das soziale Leben reduziert. Es gibt keine Feste mehr, keine Hochzeiten, kein Zusammensitzen nach der Arbeit in der Dorfkneipe, keine spielenden Kinder. Das Leben spielt sich woanders ab, wie mir ein alter Mann, der ein paar Schafe auf der Dorfweide hütet, mitteilt: es ist weitergezogen, nach Tirana, an die Küste und ins Ausland.

Die massive Abwanderung hat einerseits zu einer Entlastung der Umwelt beigetragen, da eine hohe Bevölkerungsdichte in Kombination mit nicht nachhaltigen Konsummustern zur übermäßigen Ausbeutung des Lebensraums und zu einem Verlust an Biodiversität führt. Andererseits kann Unterbevölkerung aber auch zu einem ökologischen Problem werden, wenn nicht mehr genügend Menschen da sind, um die Infrastruktur zu erhalten. Darüber hinaus macht sich auch der Klimawandel stark bemerkbar, Trockenheit und Starkregen haben zugenommen, was an exponierten Hängen zu zunehmender Erosion führt.

Kultur der Migration
So wie in vielen Regionen Südosteuropas wurden auch in Albanien in den 1990er Jahren Migrationsprozesse in Gang gesetzt, die eine Eigendynamik entwickelt haben. Aus der Abwanderung Hunderttausender in den 1990er Jahren sind Migrationsnetzwerke entstanden, die sich selbst perpetuieren. Es ist keineswegs so, dass die Menschen ihr Land gerne verlassen würden, im Gegenteil, viele würden lieber bleiben, denn die Trennung von Familie, Freunden und vertrauten Orten ist immer eine schwierige Entscheidung. Trotzdem ist für viele junge Menschen die Auswanderung zu einer fixen Etappe in ihrer Zukunftsplanung geworden.

In Fitore, einem kleinen Ort nahe der Vjosa-Mündung, spreche ich mit einem Jugendlichen, der auf dem Wochenmarkt seiner Mutter behilflich ist, die aus einem umgebauten Wohnwagen heraus köstlich-gegrillte Fleischspieße an die Marktbesucher verkauft. Die Familie ist vor 20 Jahren aus dem Hinterland von Vlora hierhergezogen, weil sich die Böden hier besser für die landwirtschaftliche Nutzung eignen. Man lebt von diesen Erträgen und ein wenig auch vom Essensverkauf am Wochenmarkt.

Der Onkel und der ältere Bruder des Jungen sind schon vor Jahren nach Italien ausgewandert. Sie haben es geschafft, sich dort eine Existenz aufzubauen. Der junge Mann geht noch zur Schule, er fühlt sich wohl hier, ist gut eingebunden in das soziale Gefüge der Gemeinde und träumt davon, einmal eine eigene Autowerkstatt betreiben zu können. Natürlich wird das nicht in Albanien sein, wie er mir erklärt, sondern in Norditalien, wo sein Bruder lebt. Er bleibt noch so lange, bis er die Schule abgeschlossen hat, dann wird auch er auswandern. Warum er keine Chance sieht, hierzubleiben, will ich wissen: „Wie soll das denn gehen!?“ Hier gäbe es keine Perspektive für all das, wovon er träumt: eine eigene Familie, ein eigenes Auto und eine Wohnung, in der es sich leben lässt. „In Albanien kann man sich maximal das eigene Überleben sichern, aufbauen lässt sich hier nichts!“ Die Preise sind auch hier enorm gestiegen. Für ihn ist es ausgemacht, dass er raus muss, um „ein normales Leben“ führen zu können.

Auch für seine Mutter ist diese Entscheidung sonnenklar. Man werde mit dieser Trennung leben müssen, anders sei es nicht möglich. Sie selbst werde aber hierbleiben, sie sei hier aufgewachsen, und ihre Ansprüche ans Leben seien nicht die der jungen Leute. Der junge Mann ist kein Einzelfall, vielmehr repräsentiert er die Norm. Fast alle in seiner Klasse würden ähnlich denken. Hier könne man gut leben, wenn man ausreichend Geld hat, die Natur, die Landschaft, das sei alles wunderschön hier, und er werde Albanien auch auf keinen Fall für immer verlassen, er werde zurückkommen, um seine Leute zu besuchen und um Urlaub zu machen, aber zuerst gelte es, sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Einer Umfrage aus dem Jahr 2015 zufolge würden fast 70 Prozent der jungen Albanerinnen und Albaner ihr Land gerne verlassen[7], doch gibt es auch einen kaum bemerkten, aber umso beachtenswerteren Trend in die Gegenrichtung. Wo immer man entlang der Vjosa hinkommt und auf Menschen trifft, die unternehmerisch tätig sind, kommt man unweigerlich mit Rückkehrern in Kontakt. Ob in der Gastronomie, in der Hotellerie, im Abenteuer-, Erlebnis- und Agrotourismus, überall sind junge Leute am Werk, die im Ausland gelebt, Ausbildungen absolviert oder Berufe erlernt haben, die sie nun in der Heimat zu nutzen versuchen. Diese Menschen sind die Hoffnungsträger der Region, die agents of change. Bisher waren sie vorwiegend Einzelkämpfer, sind mit Ideen und ambitionierten Plänen zurückgehrt und haben ihr im Ausland erworbenes Kapital so gut es geht zu investieren versucht. Unter ihnen finden sich die größten Befürworter des Nationalparkprojektes, gleichzeitig kursiert aber auch die Sorge, dass die Realisierung eines solch umfassenden Vorhabens auch massive Probleme mit sich bringen wird. Das Vertrauen in die staatlichen Organe ist sehr gering, insbesondere in den peripheren Gebieten, aus denen sich der Staat seit dem politischen Umbruch weitgehend zurückgezogen hat. Was geblieben ist, sind Verwaltungsroutinen aus der sozialistischen Zeit, die mehr schlecht als recht funktionieren. Man ist es gewohnt, selbst die Initiative zu ergreifen, autonom zu handeln und zu planen. Man wird sehen, wie es den Nationalparkverantwortlichen gelingen wird, die vielen neuen und kreativen Initiativen in ein Gesamtkonzept zu integrieren.

Anmerkungen:
[1])    https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2016-0134_DE.pdf?redirect

[2])    https://invest-in-albania.org/consortium-wins-bid-kalivac-hpp-vjosa-river/

[3])    https://riverwatch.eu/de/balkanrivers/aktuell/widerstand-der-wissenschaftsgemeinde-gegen-ver-dammung-der-vjosa-albanien

[4])    Hamm, Horst: Das blaue Herz Europas, https://bachrauf.org/vjosa-nationalpark-albanien/

[5])    https://www.balkanrivers.net/de/map

[6])    https://www.instat.gov.al/en/themes/demography-and-social-indicators/population/

[7])    https://library.fes.de/pdf-files/id-moe/11503.pdf

Robert Pichler, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Balkanforschung des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums (IHB) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Bild: Blick auf das Vjosatal. Foto: Robert Pichler

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