Kultureller Kahlschlag. Neurechte Kulturpolitik in der Slowakei
RGOW 10/2024
Die slowakische Kulturministerin Martina Šimkovičová hat die Leitungen zahlreicher zentraler Kulturinstitutionen des Landes entlassen und mit fachfremden Gleichgesinnten ersetzt. Dagegen protestierten im Sommer Zehntausende, auch aus dem Ausland kamen Solidaritätsbekundungen. Mit ihrem Abbau im Kulturbereich verfolgt Šimkovičová eine neurechte Kulturpolitik, die die vermeintlich eigene nationale kulturelle Identität in den Mittelpunkt rückt.
Es war ein heißer Sommer in der Slowakei. Nicht nur wurden Mitte August über 39 Grad in der Hauptstadt gemessen, auch die gesellschaftliche Stimmung war höchstdramatisch. Anlass war eine neuerliche Säuberungswelle im Kulturbereich. Die Kulturministerin Martina Šimkovičová hatte am 6. August erst den Generaldirektor des renommierten Slowakischen Nationaltheaters (SND), Matej Drlička, und am Tag darauf die langjährige Chefin der Nationalgalerie, Alexandra Kusá, mit sofortiger Wirkung entlassen. Sie warf den beiden finanzielles Missmanagement und „politischen Aktivismus“ vor. Beide sollen den Ruf ihrer Einrichtungen beschädigt haben.
Das nach 23 Jahren endlich fertig sanierte Gebäude der Nationalgalerie am Donauufer mit einer umfangreichen Sammlung von der mitteleuropäischen Gotik bis zur Gegenwartskunst verzeichnete 2023 mehr als 134 000 Besucher:innen. Auch das Nationaltheater weist nach den schwierigen Corona-Jahren neue Rekordzahlen vor, das Publikum liebt die Aufführungen der drei Ensembles (Schauspiel, Oper, Ballett). Die Auslastung lag in der letzten Spielzeit bei 90 Prozent.
Am 12. August 2024 forderten auf dem Platz des Widerstandes in Bratislava Zehntausende den Rücktritt von Kulturministerin Šimkovičová, die seit Oktober 2023 im Amt ist. Sie hat in der vierten Regierung von Robert Fico von Anfang an deutlich gemacht, dass es im Land ihrer Meinung nach „nur rein slowakische und keine andere Kultur“ geben soll. Für den „Gender-Wahn“ und eine „LGBT-Agenda“ solle es künftig keine öffentlichen Fördermittel mehr geben.
Die Führungen mehrerer anderer staatlicher Kultureinrichtungen – des Kinderkulturzentrums Bibiana, der Nationalbibliothek in Martin und der Kunsthalle Bratislava – waren schon im Frühjahr ausgewechselt worden. Das Bibiana leitet seit zwei Monaten Šimkovičovás Nachbarin und enge Freundin aus Kittsee, die vorher bei einer IT-Firma und als Yogalehrerin gearbeitet hatte. Der neue Chef der Nationalgalerie, ein Investmentmanager und Experte für esoterische „Selbstmassage“, musste beim ersten Treffen mit den Mitarbeiter:innen zugeben, er habe „keine Ahnung von Kunst“. Sein erstes Vorhaben: einen sehr hohen Mast für die blau-weiß-rote Nationalflagge vor dem Haupteingang zu bauen. Die Empörung war groß.
Proteste gegen die Kulturministerin
Die Demonstration am 12. August habe ich moderiert, organisiert wurde sie von der Initiative Otvorená kultúra (Offene Kultur), in der sich rund 300 Einrichtungen aus dem ganzen Land zusammengeschlossen haben. 40 Grad auf der Bühne und laute, engagierte Stimmung trotz der Hitzeschlacht. Keine Zeit diesen Sommer für die Faulheit der Hundstage! Auch viel Polizei war vor Ort, weil es sich um den ersten großen Protest handelte, der seit dem versuchten Attentat eines Einzeltäters auf Ministerpräsident Fico am 15. Mai stattfand. Die rechtspopulistische Regierung bezeichnet das Attentat als einen gezielten Angriff der skrupellosen Opposition und verunglimpft jede Kritik als „progressivistische Hetze“, die zu weiteren Gewalttaten führen würde.
Die Öffentlichkeit ließ sich davon nicht einschüchtern, fast 10 000 Menschen kamen, ein wichtiges Zeichen in Zeiten der tiefen gesellschaftlichen Spaltung. Eine Schauspielerin, die gerade in der männlichen Hauptrolle einer Inszenierung von Thomas Bernhards „Theatermacher“ große Erfolge feiert, verlas unter Beifall einen Aufruf von unabhängigen Kulturschaffenden, ein klares und glaubwürdiges Bekenntnis zu einer demokratischen, offenen, inklusiven Gesellschaft. Auch tschechische Kolleg:innen steuerten über den Fluss March/Morava hinweg einen Aufruf zur Solidarität bei. Fast als gäbe es sie noch, meine alte Heimat, die Tschechoslowakei.
Aus Protest unterzeichneten außerdem rund 185 000 Slowak:innen eine Online-Petition, die ich gemeinsam mit drei Kolleg:innen initiierte. Sie fordert den Rücktritt der Kulturministerin – es war schon der zweite solche Aufruf, nachdem der erste, im letztem Winter von der „Offenen Kultur“ lanciert, von Šimkovičová ignoriert und als „Fake“ bezeichnet wurde.
Am 13. August riefen zwei Oppositionsparteien zu einer weiteren Demonstration am gleichen Ort auf. Diese richtete sich gegen die gesamte Regierungskoalition, die aus zwei populistischen und einer rechten Partei besteht. 18 000 Bürger:innen fanden sich auf dem Platz des Widerstandes ein, wo ich seit der Samtenen Revolution regelmäßig hingehe, und wo die rege Zivilgesellschaft ihre Meinungen äußert und diskutiert: über die 1990er Jahre mit dem Rechtspopulisten Vladimír Mečiar, die Gorilla-Affäre – einen Korruptionsskandal während der Dzurinda-Amtszeit – sowie die Bürgerbewegung nach dem brutalen Mord an dem Journalisten Ján Kuciak. Die Slowakei kommt nicht zur Ruhe.
Kontaminierter politischer Diskurs
Ich glaube, die Entlassungen in der Kulturpolitik sind auch ein raffiniertes Ablenkungsmanöver des erfahrenen Machtmenschen Fico, der derzeit eine radikale Justizreform verfolgt. Denn gleichzeitig wurde der ehemalige Sonderstaatsanwalt Dušan Kováčik auf direkte Anordnung des Justizministers nach nur zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen – er war im Mai 2022 wegen Korruption rechtskräftig zu acht Jahren und einer Geldstrafe von 100 000 Euro verurteilt worden. Fico äußerte sich dazu sofort auf Facebook: Er halte diesen Schritt für „gerecht und rechtmäßig“. Wie soll das jetzt schon niedrige Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werden, wenn regierungsnahe Schwerverbrecher auf freiem Fuß sind?
Die beiden Demonstrationen bezeichnete der Ministerpräsident als vom Ausland gesteuert. Er sei sich sicher, es werde als Folge davon weitere Attentate geben. Seit Jahren kontaminiert Fico den Diskurs mit sprachlicher Gewalt, verbreitet Verschwörungstheorien, Lügen und Halbwahrheiten, beschimpft politische Gegner:innen und kritische „Presstituierte“. Fico hat sich zum politischen Influencer gewandelt. Seine Online-Monologe dominieren auf fast allen Online-Kanälen. Er will jetzt einen autoritären Staat aufbauen. Dazu braucht er unbedingt die volle Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien, die die Regierung rasant zu Propaganda-Sendern umbaut.
Ähnlich große Affinität zum Internet wie Fico bewies in den letzten Jahren auch seine Kulturministerin Šimkovičová. Nachdem die einst populäre Fernsehmoderatorin 2015 vom Privatsender Markíza wegen rassistischer Hetze entlassen worden war, startete sie eine neue Karriere als Szenestar der neuen Rechten. Im Netz konnte sie ihr völkisch-nationales Gedankengut frei präsentieren, ihre YouTube-Botschaften erreichten immer mehr Follower: „LGBT-Ideologie“ als Grund für den Niedergang Europas und das Aussterben der „weißen Rasse“, Kreml-Propaganda über den Majdan und Volodymyr Zelenskyj, Impfgegnerschaft, lauter Antiamerikanismus und Aufrufe zum NATO-Austritt.
2023 setzte sie Andrej Danko, der Vorsitzende der Slowakischen Nationalpartei (SNS), zusammen mit weiteren ähnlich obskuren Onlinestars aus dem ultrarechten Spektrum auf die Wahlliste seiner schwachen und korrupten Partei – in der Hoffnung, so den Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen. Das hat nur sehr knapp geklappt, doch die SNS wurde daraufhin Teil der Regierungskoalition, und die unwahrscheinlichste aller Ministerinnen war geboren.
Ihre Geschichte zeigt, was für ein riesiger Fehler es war, den slowakischen Faschismus als ausschließlich historisches Phänomen zu begreifen. Unser Faschismus war religiös, katholisch, zweifellos eine Diktatur, aber er war nicht durchgehend totalitär, nicht weil er milde gewesen wäre, sondern wegen der Schwäche seiner Ideologie. Der Rechtsruck der Slowakei gründet auch in der fehlenden kritischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, vor allem der weit verbreiteten Kollaboration mit zwei Diktaturen – dem Hitler-Regime und dem Stalinismus. Doch die letzte Entlassungswelle könnte Šimkovičová nun gefährlich werden. In allen Umfragen stürzt die SNS ab.
Internationale Reaktionen
Jahrzehntelang war vor allem der Operngesang der kulturelle Exportartikel der Slowakei – Peter Dvorský, Edita Gruberová, Lucia Popp, Pavel Breslik, seit jüngstem Slávka Zámečníková. Doch die gegenwärtige Kulturszene ist facettenreicher, bunter, vielfältiger und höchstaktuell, regional unterschiedlich und so solidarisch wie noch nie. Auch international macht sie immer mehr Schlagzeilen – vor allem in Österreich. Július Koller mit seiner „One Man Anti Show“ im Wiener Mumok, Mária Bartuszová mit der Retrospektive im Salzburger Museum der Moderne; die Kuratorinnen Annetta Mona Chisa und Lucia Tkáčová mit Interventionen im Linzer Lentos, Shooting-Star Jaro Varga mit seiner innovativen Medienkunst im MuseumsQuartier. Auch die slowakische Literatur wird vermehrt in Fremdsprachen übersetzt, moderne Musik mittlerweile weltweit gespielt. Das Schauspielhaus Wien bereitet gerade eine Koproduktion mit dem Slowakischen Nationaltheater vor. Die neuen Stimmen der Kultur sind lauter, motivierter, politischer, kritischer geworden – auch als Antwort auf die rabiat nationalistische Kulturministerin.
Solidaritätsbekundungen kamen auch aus dem Ausland. Der Schweizer Autor und Theaterregisseur Milo Rau und die gesamte Leitung der Wiener Festwochen halten die aktuellen Entlassungen in der Slowakei für „völlig unverantwortlich, im Inhalt und in der Konsequenz undemokratisch, in der Form für respektlos und unprofessionell und daher eines Mitgliedstaats der Europäischen Union für völlig unwürdig.“
Šimkovičová hat aber auch zahlreiche Anhänger. Die deutsche AfD unterstützt sie als „Kämpferin gegen Wokeness“, gegen „Kulturrelativismus und Multikulturalismus“. Maximilian Krah (AfD) schrieb auf X, dass „die mutige Frau“ den Linken die Kulturinstitutionen wegnimmt und als einzige europäische rechte Politikerin „die Kultur zurück zur Normalität bringt“. Die Weltanschauung der slowakischen Ministerin hat zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem Kulturprogramm der AfD, die eine grundsätzliche Neuausrichtung der Kulturpolitik mit dem Ziel der Verteidigung der deutschen Identität fordert: „Die aktuelle Reduktion kultureller Identität auf eine Schuld- und Schamkultur“ soll durch positive Bezugspunkte nationaler kultureller Identität korrigiert werden, um die „aktive Aneignung kultureller Traditionen und identitätsstiftender Werte wieder in den Vordergrund zu rücken.“
Šimkovičová ist ein Symptom eines gesamteuropäischen, globalen Problems. Wie es der österreichische Reporter Martin Pollack klar formulierte: „Was derzeit an kulturpolitischem Kahlschlag in der Slowakei passiert, geschieht gegen uns alle, es geht uns alle an. Er wirkt sich auf uns alle aus.“
Michal Hvorecký, Schriftsteller und Journalist, lebt in Bratislava.
Bild: Großdemonstration am 12. August 2024 gegen die Entlassung des Generaldirektor des Slowakischen Nationaltheaters und der Chefin der Nationalgalerie (Foto: Richard Köhler).