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Lackmustest für das Sowjetregime: Die Ukrainische Helsinki-Gruppe

RGOW 03–04/2025
Myroslav Marynovych

In der Sowjetukraine entstand unter dem Eindruck der Schlussakte von Helsinki eine Helsinki-Gruppe, um sich für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen. Trotz des hohen persönlichen Risikos exponierten sich die Gründungsmitglieder und publizierten zahlreiche Dokumente. Bereits nach wenigen Monaten wurden die meisten von ihnen verhaftet. Dennoch leisteten sie Historisches, denn mit ihren Aktivitäten brachen sie das Schweigen in der Sowjetunion.

Die Entstehung der ukrainischen Dissidentenbewegung war durch die zweifache Natur des Sowjetregimes – als totalitärer Staat und russisches Imperium, getarnt unter dem Deckmantel der kommunistischen „Union“ – bestimmt. Einerseits war sie ein Versuch, dem totalitären Staat ernsthaft Widerstand zu leisten und die Gesellschaft zu demokratisieren. In diesem Sinn teilten die ukrainischen Dissidenten die Haltung aller sowjetischen Dissidenten mit den russischen Menschenrechtskreisen in Moskau als Vorbild. In ihren Anfängen wurde die sowjetunionweite Dissidentenbewegung von den Hoffnungen genährt, die durch die Entlarvung des sog. Stalinkults nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 und durch eine gewisse Demokratisierung, die oft als „Chruschtschows Tauwetter“ bezeichnet wird, entstanden waren. Die früheren stalinistischen ideologischen Standards waren überdacht worden, und es keimte die Hoffnung auf, dass das bestehende System in einen „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ umgewandelt werden könnte.

Andererseits bezog die ukrainische Dissidentenbewegung ihre Inspiration aus dem Befreiungskampf der Ukrainer, der sich insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt hatte. In gewisser Weise war sie eine Fortsetzung dieses Kampfes, aber mit anderen Mitteln. Die Bewegung für kulturelle, religiöse und später Bürgerrechte hat das koloniale Regime Moskaus objektiv geschwächt und daher Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb der unterjochten Nationen (wie der litauischen, georgischen und anderen) gefördert. Daher gehörten zur ukrainischen Dissidentenbewegung auch politisch orientierte Figuren, für die der Kampf für Menschenrechte ein aussichtsreiches Instrument zur Erreichung des Hauptziels – der politischen Unabhängigkeit der Ukraine – war. Sie bevorzugten sogar den Begriff „Widerstandsbewegung“ statt „Dissidentenbewegung“ und vermieden es bewusst, sich als „Dissidenten“ zu bezeichnen, und bevorzugten es, als „politische Gefangene“ oder „Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine“ angesprochen zu werden.

Die ukrainische Dissidentenbewegung durchlief mehrere Entwicklungsphasen. Die erste war die Zeit romantischer Hoffnungen und begann in der Öffentlichkeit mit der Gründung von freien Clubs für die kreative Jugend Anfang der 1960er Jahre in Kyjiw und Lwiw. Diese Phase dauerte bis zu den ersten Verhaftungen 1965, mit denen die Regierung dem gefährlichen freien Denken ein Ende setzte. Die zweite Periode kann als eine Zeit der Ernüchterung bezeichnet werden. Sie begann mit öffentlichen Protesten der Mutigsten gegen die Verhaftungen. Es bestand die – allmählich schwindende – Hoffnung, dass die Verhaftungen einfach ein Fehler gewesen seien. Diese Zeit dauerte bis zur zweiten Verhaftungswelle 1972/73.

Die dritte Periode war daher eine Zeit der Neuorientierung. Illusionen über eine menschliche Evolution des Regimes hatten sich vollständig zerschlagen, während noch kein „Licht am Ende des Tunnels“ in Sicht war. Vorsichtiges freies Denken im kulturell-intellektuellen Bereich wurde schrittweise von substanzieller Kritik am Regime und einer immer entschiedeneren Schlussfolgerung, dass seine Veränderung unausweichlich sei, ersetzt. Die vierte Periode der Dissidentenbewegung in der Ukraine kann als Helsinki-Periode bezeichnet werden. Sie war von der Schlussakte von Helsinki 1975 zwischen den Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), darunter die UdSSR, inspiriert. Insgesamt gab es fünf Helsinki-Gruppen in der ehemaligen Sowjetunion:

 –   die Moskauer Helsinki-Gruppe um Jurij Orlov, gegründet am 12. Mai 1976

 –   die Ukrainische Helsinki-Gruppe um Mykola Rudenko, gegründet am 9. November 1976

 –   die Litauische Helsinki-Gruppe um Viktoras Petkus und Tomas Venclova, gegründet am 25. November 1976

 –   die Georgische Helsinki-Gruppe um Swiad Gamsachurdia, gegründet am 14. Januar 1977

 –   die Armenische Helsinki-Gruppe um Edward Harutiunyan, gegründet am 1. April 1977

Die fünfte Periode der Dissidentenbewegung in der Ukraine war von Gorbatschows Perestrojka (ab 1985) inspiriert und entwickelte sich allmählich zu einem Kampf für die Unabhängigkeit, die 1991 erreicht wurde.

Gründung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe
Die Idee zur Gründung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG) entstand bei einem Gespräch zwischen dem ukrainischen Schriftsteller und Dissidenten Mykola Rudenko und General Petro Hryhorenko in Moskau, der ebenfalls ein bekannter Dissident und damaliges Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe war. Nach seiner Rückkehr in die Ukraine reiste Rudenko in verschiedene Städte und lud Personen, die seiner Meinung nach psychisch und ideologisch bereit waren, in die Gruppe ein. Am 9. November 1976 verkündete Rudenko in der Wohnung von Alik Ginzburg in Moskau vor westlichen Diplomaten und Journalisten die Gründung der UHG. Zehn Personen gelten als ihre Gründungsmitglieder (siehe Tabelle).

Gründungsmitglieder der ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG)

 
 

Vor- und Familienname

Kommentar

Frühere Verfolgungen

1.

Mykola Rudenko

Vorsitzender der Gruppe, Schriftsteller, Dichter

Opfer der Strafpsychiatrie

2.

Oles Berdnyk

Science-Fiction-Schriftsteller, Dichter

In den 1950er Jahren politischer Gefangener

3.

Petro Hryhorenko

General, Veteran des Zweiten Weltkriegs, vom Regime entehrt, Mitglied sowohl der Moskauer als auch der Ukrainischen Helsinki-Gruppe

Opfer der Strafpsychiatrie

4.

Ivan Kandyba

Jurist

Früherer politischer Gefangener

5.

Levko Lukjanenko

Jurist

Früherer politischer Gefangener

6.

Myroslav Marynovytsch

Ingenieur

 

7.

Mykola Matusevytsch

Historiker, von der Universität ausgeschlossen

 

8.

Oksana Meschko

Rentnerin, Mutter des Gefangenen Oles Serhijenko

Politische Gefangene in den 1940er und 1950er Jahren

9.

Nina Strokata

Mikrobiologin, Ehefrau des politischen Gefangenen Svyatoslav Karavansky

Zu der Zeit unter Beobachtung in Tarusa, Oblast Kaluga

10.

Oleksa Tychy

Lehrer, damals arbeitslos

Früherer politischer Gefangener

Es überrascht nicht, dass von den zehn Gründungsmitgliedern der Gruppe sechs während der stalinistischen oder Chruschtschow-Zeit bereits Haftstrafen verbüßt hatten und zwei durch die Strafpsychiatrie verfolgt worden waren. Mykola Matusevytsch und ich waren die einzigen, die zuvor nicht schwer vom Sowjetregime verfolgt worden waren. Wir waren auch die Jüngsten. Oksana Meschko, die uns einlud, regte an, dass so junge Menschen wie wir für das effektive Funktionieren der Gruppe besonders nötig seien.

Als wir die Einladung erhielten, fühlten wir beide das erste Raunen unseres neuen Schicksals. Einerseits machten wir uns keine Illusionen. Wir wussten beide, dass wir früher oder später verhaftet werden würden. Andererseits war uns auch klar, dass wir uns eine Absage nie verzeihen würden. Also beschlossen wir, die Einladung anzunehmen.

Aktivitäten der Gruppe
Das erste offizielle Dokument der UHG war ihre Deklaration, geschrieben von Mykola Rudenko und von allen Mitgliedern mit ihren Namen und Adressen unterzeichnet. Noch heute erscheint mir dieses Dokument außergewöhnlich. Diese Ziele setzte sich die Gruppe:

1.   Einen breiten Teil der ukrainischen Gesellschaft mit den Grundsätzen der Menschenrechtsdeklaration vertraut zu machen. Sicherzustellen, dass dieses internationale Rechtsdokument zur Grundlage für alle Beziehungen zwischen dem Einzelnen und dem Staat wird.

2.   Ausgehend von der Überzeugung, dass Frieden und Stabilität zwischen den Nationen nicht ohne freie Kommunikation zwischen den Völkern oder ohne freien Informations- und Ideenaustausch erreicht werden können, aktiv die Einhaltung der humanitären Artikel der KSZE-Schlussakte zu fördern.

3.   Zu fordern, dass die Ukraine als souveränes europäisches Land und Mitglied der Vereinten Nationen an allen internationalen Konferenzen, an denen die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki evaluiert werden soll, durch eine eigene Delegation vertreten wird.

4.   Die Akkreditierung von internationalen Pressevertretern in der Ukraine und die Einrichtung ausländischer Presseagenturen zu fordern, um den freien Ideen- und Informationsfluss sicherzustellen.

Der Schwerpunkt des Dokuments lag auf der Verteidigung der Menschenrechte. Nirgends sprachen wir über das politische System der Sowjetunion, nirgends legten wir die Notwendigkeit, das Sowjetregime zu stürzen, nahe. Dennoch machten wir implizit klar, dass im Land ein totalitäres System herrschte und bekämpft werden musste. Das Hauptziel der UHG war, die Umsetzung der Schlussakte auf dem Gebiet der Ukraine zu überwachen. Bürger- und kulturelle Rechte sowie Religionsfreiheit gehörten zu den wichtigsten Themen.

Wir veröffentlichten Berichte (Memoranden) über Verletzungen der Schlussakte in der Ukraine und verteilten sie an diejenigen Teilnehmerstaaten, die sich durch ihre aktiven Bemühungen zur Verteidigung der Menschenrechte auszeichneten, wie die USA, Kanada, Großbritannien und die Bundesrepublik. Ausländische Diplomaten und Journalisten in Moskau waren unsere Mittelsleute. Dank Radio Liberty, Voice of America, der BBC und der Deutschen Welle verbreiteten sich Informationen über die Gründung der UHG sowie unsere Dokumente schnell. Die Memoranden waren entweder Überblicke (wie Nr. 1) oder widmeten sich einem bestimmten Fall einer Rechtsverletzung (wie Nr. 3 zum Fall von Josyp Terelja, Nr. 8 zum Fall von Vira Lisova und Nr. 11 „Über das Schicksal von Nadija Svitlytschna“). Bis zu meiner Verhaftung hatte die Gruppe elf Memoranden verfasst.

Heute ist klar, dass unsere Arbeit trotz aller Schwierigkeiten und Missverständnisse sowie der Verhaftungen dynamisch weiterging. Bis Anfang 1977 veröffentlichten wir zahlreiche Dokumente, manchmal mehrere innerhalb weniger Tage. Dazu gehörte „Eine offene, freundliche Botschaft“ (10. Februar) von Berdnyk an PEN International über Rudenkos Verhaftung, Oksana Meschkos Klage an den Generalstaatsanwalt der UdSSR wegen der illegalen Durchsuchung ihrer Wohnung (11. Februar), das Memorandum Nr. 5 „Ukraine 1977 – an die Teilnehmerstaaten der Belgrader Konferenz im Sommer 1977“ (15. Februar) und ein offener Brief von Oles Berdnyk an den Obersten Sowjet und an den US-Kongress über seinen geplanten Hungerstreik zum Protest gegen Mykola Rudenkos Verhaftung (1. März).

Die Mitglieder der Gruppe hatten natürlich kein Internet, E-Mail oder Fax. Allein eine Schreibmaschine zu besitzen, galt schon als Triumph. Telefongespräche wurden regelmäßig vom KGB abgehört. Daher bedeutete der Beitritt zur Gruppe für viele Mitglieder ein Opfer, das nicht nur für sie große Verluste, sondern auch große Risiken für ihre Familien mit sich brachte. Mit dem Beitritt akzeptierte jedes Mitglied freiwillig alle Verantwortung für jedes Dokument der Gruppe, auch wenn es an der Verfassung nicht persönlich beteiligt war.

Es stellte sich heraus, dass die grausamen Verfolgungen und Einschüchterungen einen gegenteiligen Effekt hatten: die UHG ließ sich nicht nur nicht zum Schweigen bringen, sondern veröffentlichte weitere Dokumente und Petitionen. Eine der bemerkenswerten Eigenschaften von Mykola Rudenko war die Sorgfalt und Genauigkeit seiner Arbeit. Deshalb endeten alle unsere frühen Memoranden immer mit seinem charakteristischen Satz: „Das unterzeichnete Original dieses Dokuments wird von der Ukrainischen Helsinki-Gruppe aufbewahrt.“ Ich denke, dass dieser Zusatz den KGB besonders irritierte, weil er ihn als Anmaßung seines Exklusivrechts auf den Besitz von Dokumenten wahrnahm. Diese Originaldokumente wurden zentrale Ziele der KGB-Durchsuchungen; danach hätte der Satz geändert werden können: „Das unterzeichnete Original wird sorgfältig von der Ermittlungsabteilung des KGB aufbewahrt.“

Beziehungen zu anderen Helsinki-Gruppen
Zunächst hielten die Menschen im Westen unsere Gruppe für einen ukrainischen Zweig der Moskauer Helsinki-Gruppe. Dazu möchte ich Mykola Rudenko und seinen offenen Brief an „Alle Menschen guten Willens“ zitieren: „In den Nachrichten über die Gründung unserer Gruppe tauchte die Nachricht auf, wir wären eine ‚Unterabteilung‘ der Moskauer Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Helsinki-Vereinbarungen. Das stimmt aber so nicht. Unsere Beziehung gründete auf Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht auf Unterordnung.“[1]

Obwohl wir in Bezug auf den Inhalt unserer Dokumente völlig unabhängig waren, konnten wir sie nicht unabhängig in den Westen übermitteln. Hier stellte sich die Hilfe der Moskauer Helsinki-Gruppe als unbezahlbar heraus. Damit demonstrierte sie, dass ihre größte Hingabe der Demokratie galt. Obwohl sie die Beschäftigung der UHG mit nationalen Fragen vielleicht für etwas übertrieben hielt oder befürchtete, dass sie dem Kern der demokratischen Prinzipien schaden könnte, versuchte sie nie, unsere Bemühungen um Kontakte mit internationalen Vertretern zu behindern – zumindest habe ich nie von etwas derartigem gehört. Im Gegenteil tat sie alles dafür, um diese Kontakte zu ermöglichen. Ihre Mitglieder boten sogar ihre eigenen Wohnungen an, um Treffen und Pressekonferenzen zu organisieren. Es muss deshalb unmissverständlich gesagt werden, dass ohne ihre Hilfe die „nationalen“ Helsinki-Gruppen schlicht nicht hätten funktionieren können. Zudem boten unsere Moskauer Kollegen ihre Wohnungen denjenigen an, die auf dem Weg zu Familienmitgliedern und Freunden, die in Straflagern inhaftiert waren, über Moskau reisten. Durch sie wurde die Hilfe aus dem Solschenizyn-Fonds[2] an Familienmitglieder von Inhaftierten verteilt. Dafür gebührt den Moskauer Dissidenten unser Dank und Lob.

Andererseits erkannten die russischen Dissidenten nur einen Fehler im Sowjetsystem, nämlich den Totalitarismus. Gegenüber seiner imperialen Natur waren sie unempfänglich, sie glaubten, dass das Regime lediglich demokratisiert werden müsse. Später bestätigte Josyf Zisels, ein Dissident jüdischen Ursprungs, die imperialistischen Haltungen, die sich hinter der demokratischen Fassade vieler russischer Dissidenten verbarg: „Selbst in den Dissidentenzeiten sah ich, wie imperial die russischen Dissidenten waren. Sie waren gegen die konkrete Sowjetmacht, aber zugleich für die Erhaltung des Imperiums und darüber wurde nie diskutiert. Der Zerfall des Imperiums war für uns ein Glücksfall; ich denke dabei vor allem an unsere Dissidenten in den nationalen Grenzgebieten: den georgischen, litauischen und ukrainischen, zu denen ich selbst gehöre. Wir kämpften für die Zerstörung des Imperiums. Für die Mehrzahl der Russen, einschließlich der Intelligenz und der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, war der Zerfall jedoch eine Tragödie, wie auch Putin sagte.“[3] Aber obwohl die russischen Dissidenten die UHG zu überzeugen versuchten, nationale Fragen zurückzustellen, gingen sie nie soweit, direkt zu intervenieren oder Ultimaten zu stellen.

Aus heutiger Perspektive erscheint es seltsam, dass es praktisch keinen Kontakt zwischen den vier „nationalen“ Helsinki-Gruppen gab; zumindest weiß ich nichts davon. Weil alle Materialien dieser vier Gruppen nur über Moskau in den Westen übermittelt werden konnten, hatten sie die engsten Kontakte zur Moskauer Helsinki-Gruppe. Zudem waren Kontakte zwischen den „nationalen“ Gruppen angesichts der totalen Überwachung und Abhörung schwer vorstellbar.

Verfolgungen und Haftstrafen
Schon bald wurde klar, dass offen agierende Gruppen für das Sowjetregime sogar noch gefährlicher waren als die im Untergrund. Nach dreimonatigem Zögern entschied der KGB, die Mitglieder der UHG für „das Verbreiten antisowjetischer Propaganda zur Untergrabung des sowjetischen Staats und der Gesellschaftsordnung“ zu bestrafen. In den folgenden Jahren verhafteten die Behörden acht Mitglieder und verwiesen die anderen zwei des Landes. Die Verfolgungen verängstigten die „Nicht-Einverstandenen“ nicht, sondern mobilisierten vielmehr einen Teil der ukrainischen Gesellschaft. So erlebte die Gruppe während der 1980er Jahre zwei weitere Wellen von „Kamikaze-Mitgliedschaften“, die unweigerlich verfolgt wurden. Heute wird davon ausgegangen, dass es insgesamt 41 Mitglieder der UHG gab. Die UHG verkündete nie ihre Auflösung und führte ihre Aktivitäten aus dem Gefängnis oder im Ausland weiter. Während ihres Bestehens gab es nur einen Rückzug (Oles Berdnyk) und einen Suizid (Mychaylo Melnyk). Am 7. Juli 1988, während Gorbatschows Perestrojka, erklärten einige UHG-Mitglieder die Gründung der Ukrainischen Helsinki-Vereinigung mit klaren politischen Zielen. Diese war ein Prototyp für eine politische Partei.

Zuerst wurden am 5. Februar 1977 Mykola Rudenko und Oleksa Tychy verhaftet, in Moskau traf es Jurij Orlov und Alexander Ginzburg. Ohne etwas davon zu wissen, gingen Mykola Matusevytsch und ich auf einer Straße im Zentrum von Kyjiw, als plötzlich eine Gruppe junger Männer aus einem Auto sprang, uns die Arme verdrehte und uns ins Auto stieß. „Ruhe! Ruhe und keinen Widerstand! Steigt ins Auto!“ Sie brachten uns ins KGB-Hauptquartier und hielten uns getrennt fest. Dann gaben sie uns eine offizielle Verwarnung zum Unterschreiben, deren Kernaussage war: „Wenn ihr eure verbrecherische Tätigkeit nicht einstellt, werden wir euch verhaften“. Natürlich hatten wir nicht die Absicht, unsere Mitgliedschaft in der UHG aufzugeben, noch hatten wir vor, unsere Aktivitäten einzuschränken. Als wir nach Hause kamen, erfuhren wir, dass sie unsere Wohnungen in Kyjiw und den Vororten durchsucht hatten. Auch bei anderen Mitgliedern der UHG hatte Durchsuchungen stattgefunden. Aber niemand fühlte sich eingeschüchtert. Wir sammelten weiter Material für neue Memoranden. Wir waren Oles Berdnyk dankbar, den wir nun alle als de facto Leiter der UHG betrachteten. Allerdings war sich die Gruppe nach Rudenkos Verhaftung einig, dass wir den Namen des nächsten Anführers nicht verkünden würden.

Die nächsten Verhaftungen waren die von Mykola Matusevytsch und mir. Am Morgen des 23. April 1977 waren wir in der Wohnung von Mykolas Schwester Tamila in Kyjiw, wo wir die Nacht verbracht hatten. Um 6:30 Uhr hörten wir die Klingel. Tamila stand auf, ging zur Tür und fragte „Wer ist da?“. Auf der anderen Seite der Tür antwortete eine Frauenstimme „Telegramm“. Als Tamila die Tür öffnete, füllte sich der Raum augenblicklich mit KGB-Beamten, alle schwarz gekleidet. Wieder hörten wir das typische „Ruhe, Ruhe!“.

Die Umstände der Verhaftungen von Levko Lukjanenko, Oles Berdnyk, Oksana Meschko und Ivan Kandyba waren kaum anders als bei uns. Unsere Gerichtsverfahren fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Niemand bereute während des Verfahrens; Oles Berdnyk schrieb sein Geständnis in einem Arbeitslager. Sieben Mitglieder der Gruppe verbüßten ihre Haftstrafen in Arbeitslagern mit strikten Sonderregimes in der Region Perm. Oksana Meschko war bei ihrer zweiten Verhaftung fast 76 Jahre alt und verbüßte ihre Strafe unter außerordentlich schwierigen Bedingungen im Fernen Osten Russlands. So sahen die Strafen der Mitglieder aus:

1.   Mykola Rudenko: Freiheitsentzug vom 5. Februar 1977 bis Oktober 1987

2.   Oles Berdnyk: Freiheitsentzug vom 6. März 1979 bis zum 14. März 1984

3.   Petro Hryhorenko: Entzug der sowjetischen Staatsbürgerschaft am 13. Februar 1978

4.   Ivan Kandyba: Freiheitsentzug vom 24. März 1981 bis 9. September 1988

5.   Levko Lukyanenko: Freiheitsentzug vom 12. Dezember 1977 bis 30. November 1988

6.   Myroslav Marynovytsch: Freiheitsentzug vom 23. April 1977 bis 2. März 1987

7.   Mykola Matusevytsch: Freiheitsentzug vom 23. April 1977 bis Februar 1989

8.   Oksana Meschko: Freiheitsentzug vom 13. Oktober 1980 bis 5. November 1985

9.   Nina Strokata: am 30. November 1979 mit ihrem Ehemann aus der UdSSR ausgewiesen, Entzug der sowjetischen Staatsbürgerschaft

10. Oleksa Tychy: Freiheitsentzug vom 5. Februar 1977 bis 6. Mai 1984, verstarb in einem Gefängnisspital in Perm

Historische Bedeutung
Man kann nur staunen, dass die UHG angesichts der schrecklichen Zeitumstände überhaupt existieren konnte. Ljudmila Alexejeva, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe und eine standhafte Verteidigerin der Rechtsstaatlichkeit, betonte immer, dass sie und ihre Kollegen die Mitglieder der UHG als Kamikaze-Kämpfer betrachteten, die auf ein unvermeidliches Opfer zusteuerten. Die Dokumente der Gruppe sollten nicht mit den Augen eines heutigen Wissenschaftlers oder Politikers gelesen werden. Damals war es, als sei jedes Wort mit Blut geschrieben. Jedes Gekritzel wurde vom KGB inspiziert oder bei Durchsuchungen konfisziert. Jede in solchen Notizen erwähnte Person lief automatisch Gefahr, vom KGB verhört zu werden. Sogar jemanden zuhause zu besuchen oder auf der Straße zu treffen, brachte diese Person automatisch auf die Verdächtigenliste des KGB. Wir waren daher nicht nur für unsere eigenen Leben verantwortlich, sondern auch für die Leben von anderen.

Daher liegen die Bedeutung und der historische Wert der Dokumente nicht nur in ihrer intellektuellen Leistung, sondern vor allem in ihrem Effekt, nämlich dass sie in diesem bestimmten historischen Moment geäußert wurden. Die Erklärungen der verschiedenen Helsinki-Gruppen durchbrachen das Schweigen und hatten dadurch eine explosive Wirkung. Ihr Wert liegt nicht unbedingt in ihrer herausragenden Qualität, sondern im Preis, der für jedes Wort bezahlt wurde.

Wir alle waren von der Schlussakte von Helsinki inspiriert. Für uns war es wichtig, dass der dritte „Korb“ der Schlussakte den Menschenrechten gewidmet war, insbesondere dem Recht auf freien Ideentransfer und Religionsfreiheit. Leider haben die aktuellen Strukturen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) zwar ihre Verfahrensmechanismen beibehalten, scheinen aber ihr ethisches Potenzial zu verlieren.

Ich bin jedoch froh, dass ich zu jener schwierigen Zeit die richtige Entscheidung traf und mich der Helsinki-Bewegung anschloss, und ich habe diese Entscheidung keinen einzigen Tag bereut. Die Situation in der Sowjetunion verlangte „Kamikaze“-Menschen, die sich bewusst opferten, um wie ein Lackmustest die totalitäre Natur des Sowjetregimes zu veranschaulichen. Wie Andrej Amalrik, ein Dissident, richtig sagte, taten die Dissidenten „etwas brillant Einfaches – in einem unfreien Land begannen sie wie freie Menschen zu handeln und begannen damit die moralische Atmosphäre und die Traditionen, die das Land beherrschten, zu verändern“. Genau wie ein chemischer Partikel eine übersättigte Lösung kristallisieren kann, ermöglichte die Dissidentenbewegung die Kristallisierung des moralischen und politischen Ungehorsams der Menschen.

Anmerkungen: 
[1])    Marynowytsch, Myroslaw: Das Universum hinter dem Stacheldraht. Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten. Stuttgart 2023, S. 161. Zur Buchbesprechung in RGOW 3/2024

[2])    Stiftung und Unterstützungsnetzwerk, das in den 1970er Jahren von Alexander Solschenizyn sowie dem Autor und Dissidenten Alexander Ginzburg ins Leben wurde. Solschenizyn übergab ein Viertel des Geldes von seinem Nobelpreis und alle Tantiemen aus „Archipel Gulag“ dem Fonds, der durch ein Freiwilligennetzwerk an sowjetische Dissidenten verteilt wurde.

[3])    https://glavcom.ua/publications/128047-josip-zisels-donbas-%E2%80%93-tse-nash-sektor-gazi.html

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.

Myroslav Marynovych, Menschenrechtler, Publizist, sowjetischer Dissident und Vizedirektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw.

Bild: l: Oksana Meschko, die bereits in den 1940er und 1950er Jahren für mehrere Jahre in einem Arbeitslager inhaftiert gewesen war, lud den Autor in die UHG ein. r: Myroslav Marynovych gehörte zu den jüngsten Mitgliedern der UHG (Fotos: Myroslav Marynovych).

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